Das Moskau-Komplott
dachte Philippe finster. Ein Russe hatte die Mauern des Grandhotels durchbrochen. Jetzt war Widerstand das Gebot der Stunde. Sie kehrten auf ihre jeweiligen Außenposten zurück, Ricardo in seine Rezeptionsgrotte, Philippe an sein Pult in der Nähe des Lifts. Zehn Minuten später kam der erste Anruf aus Zimmer 237. Ricardo musste eine stalinistische Tirade über sich ergehen lassen, ehe er ein paar beschwichtigende Worte murmelte und den Hörer auflegte. Er sah Philippe an und grinste.
»Monsieur Lubin fragt, wo seine Koffer bleiben.«
»Ich werde mich sofort darum kümmern«, sagte Philippe und unterdrückte ein Gähnen.
»Außerdem fragt er, ob etwas gegen die Hitze im Zimmer unternommen werden könnte. Er sagt, es sei zu warm und der Thermostat scheine nicht zu funktionieren.«
Philippe griff zum Telefon und wählte die Nummer der Haustechnik.
»Dreht die Heizung in Zimmer 237 wärmer«, sagte er. »Monsieur Lubin friert.«
Hätten sie die ersten Augenblicke von Lubins Aufenthalt miterlebt, hätte sich ihr Verdacht bestätigt, dass ein Bösewicht in ihrer Mitte weile. Wie sonst ließ sich erklären, dass er alle Schubladen aus der Kommode und den Nachttischen riss und sämtliche Glühbirnen aus Lampen und Leuchten schraubte? Das luxuriöse Queensize-Doppelbett komplett abzog und die Schale der Telefonanlage abschraubte? Eine Gratisflasche Mineralwasser in die Toilette goss und zwei Pralinen des Genfer Schokoladenherstellers Touvier auf die verschneite Straße hinauswarf? Und, nachdem er sich ausgetobt hatte, das Zimmer weitgehend wieder in den Zustand zurückversetzte, in dem er es vorgefunden hatte?
Der Grund, warum er zu diesen ziemlich drastischen Maßnahmen griff, war sein Beruf, aber sein Beruf war keiner von denen, die Ricardo, der Empfangschef, vermutete. Aleksandr Viktorowitsch Lubin war weder Gangster noch Spion, und er war auch kein Killer. Er übte lediglich den gefährlichsten Beruf aus, den man im schönen neuen Russland ergreifen konnte. Er war Journalist. Und nicht irgendein Journalist, sondern ein
unabhängiger
Journalist. Seine Zeitschrift, die
Moskowskij Gaseta,
gehörte zu den letzten investigativen Wochenmagazinen des Landes und war dem Kreml ein ständiger Dorn im Auge. Seine Reporter und Fotografen wurden permanent beschattet und eingeschüchtert, und nicht nur von der Geheimpolizei, sondern auch von den privaten Sicherheitsdiensten der mächtigen Oligarchien, über die sie zu berichten versuchten. In Courchevel wimmelte es jetzt von solchen Männern. Männer, die nichts dabei fanden, in Hotelzimmern Wanzen verstecken oder Gift versprühen zu lassen. Männer, die nach Stalins Grundsatz verfuhren:
Der Tod löst alle Probleme. Kein Mensch, kein Problem.
Überzeugt, dass sich niemand im Zimmer zu schaffen gemacht hatte, rief Lubin erneut beim Concierge an, um sich nach seinen Koffern zu erkundigen, und erhielt den Bescheid, dass sie »in Kürze« eintreffen würden. Darauf setzte er sich, nachdem er die Balkontür aufgerissen hatte, um kalte Abendluft hereinzulassen, an den Schreibtisch und zog einen Aktendeckel aus seiner abgewetzten Ledermappe. Er hatte ihn am Abend zuvor von Boris Ostrowskij, dem Chefredakteur der
Gaseta,
erhalten. Ihr Treffen hatte nicht in den Redaktionsräumen der
Gaseta,
die vermutlich gründlich verwanzt waren, stattgefunden, sondern auf einer Bank in der Metrostation Arbatskaja.
Ich werde Sie nicht in alle Hintergründe einweihen,
hatte Ostrowskij gesagt und ihm mit routinierter Gelassenheit die Unterlagen gereicht.
Das ist nur zu Ihrem eigenen Schutz. Verstehen Sie, Aleksandr?
Lubin hatte vollkommen verstanden. Ostrowskij erteilte ihm einen Auftrag, der ihn das Leben kosten konnte.
Jetzt schlug er den Aktendeckel auf und betrachtete das Foto, das zuoberst auf dem Dossier lag. Es zeigte einen gut gekleideten Mann mit kurz geschnittenen, dunklen Haaren und dem derben Gesicht eines Preisboxers, der bei einem Empfang im Kreml neben dem russischen Präsidenten stand. An das Foto angeheftet war eine Kurzbiografie - überflüssigerweise, denn wie jeder Journalist in Moskau kannte Aleksandr Lubin die Eckdaten von Iwan Borisowitsch Charkows bemerkenswerter Karriere auswendig.
Sohn eines hohen
KGB
-Offiziers ... Absolvent der renommierten Moskauer Staatsuniversität... Wunderknabe der Fünften Hauptverwaltung des
KGB ...
Beim Zusammenbruch des Sowjetreichs hatte Charkow den KGB verlassen und in den anarchischen frühen Jahren des russischen Kapitalismus mit
Weitere Kostenlose Bücher