Keine E-Mail fuer Dich
SCHÖNE NEUE THERAPIEWELT
E s ist 10.55 Uhr vormittags, ich bin in meiner Psychotherapie-Praxis, und meine Arbeit beginnt. Ohne Laptop geht hier gar nichts mehr. Ich schaue in mein Outlook, lese kurz E-Mails von Patienten bezüglich Terminabsprachen und setze mir mein Headset auf, denn meine erste Patientin (29) ruft mich gleich über Skype an. Ich sitze in Berlin, sie sitzt in Dubai vor ihrer Webcam und streitet sich regelmäßig mit ihrem Freund, der in Dublin sitzt. Über Twitter, Skype und Mail versucht sie ihre Beziehung lebendig zu halten. Unsere wöchentliche »Online-Telefon-Therapiestunde« ist für sie sehr wichtig.
11.58 Uhr – es klingelt an der Tür. Der nächste Termin naht: Ein junger Student (25) ist im September wegen seiner Freundin nach Berlin gezogen, doch diese hat kurz danach per Chat die Beziehung beendet. Er schaut sich ihre Fotos regelmäßig bei Facebook an, kann sie nicht loslassen. In Trennungsforen im Internet tauscht er sich nächtelang mit anderen aus, wie er sie wieder zurückgewinnen kann. Seine dort gewonnenen Kenntnisse sind für ihn schwer in die Realität umzusetzen, ihm fehlt die Übung. Seine empathischen Fähigkeiten sind ihm in den letzten Jahren irgendwie verloren gegangen.
12.59 Uhr – es läutet wieder. Eine sehr hübsche Frau (33) setzt sich auf die Couch. Sie hat ihre Karriere bei einer großen Werbeagentur vor drei Tagen an den Nagel gehängt. Sie überlegt, wieder zurück nach Hamburg zu ziehen. Ihre Diagnose: Burn-out. Ich nenne es Erschöpfungsdepression.
14.05 Uhr – ich habe 55 Minuten Pause, überprüfe wieder meine E-Mails und gehe schnell etwas essen.
14.50 Uhr – ein junges Mädchen (21) wartet schon. Sie leidet an »Binge Eating«, sogenannten Essattacken, aus Einsamkeit. Ich kenne sie schon seit über einem Jahr. Ihre Mutter ruft mich einmal im Monat aus Düsseldorf an, um zu fragen, wie es ihrer Tochter geht.
15.58 Uhr – ein Mann (42) hat nach nur zwei Wochen seinen neuen Job in Australien aufgegeben und ist zurückgekommen. Aber was er hier in Deutschland eigentlich soll, weiß er auch nicht. Er empfindet sein Dasein als sinnlos.
17.02 Uhr – eine junge Frau (25) hat sich über friendscout24 vor zwei Wochen einen neuen Freund »besorgt«, mit dem es jetzt nicht so gut läuft. Sie entscheidet am Ende der Therapiestunde, sich online schnell »etwas Neues« zu suchen. Per Suchmaske gibt man Alter und Postleitzahl an, drückt dann auf ENTER . Da sind sie dann alle: willige Burschen, die zu ihr passen, erklärt sie mir.
17.59 Uhr – ein junges Mädchen (21) sitzt weinend vor mir. Letzte Woche hat sich ihr Freund von ihr getrennt, sein Beziehungsstatus bei Facebook war bis vor ein paar Tagen »Single«, jetzt »in einer Beziehung«. Außerdem hat er sie aus seiner Freundesliste gelöscht, und Fotos der neuen Freundin sind auch schon online. Sie möchte ihrem Leben ein Ende setzen.
19.03 Uhr – ein Mann (38), verheiratet, zwei Kinder, sucht Kontakte mit Männern im Internet, um sich anschließend mit ihnen anonym zu treffen. Er hat ein schlechtes Gewissen. »Bin ich noch normal oder schon homosexuell?«, fragt er mich.
20.10 Uhr – Feierabend, meine Stimme ist heiser. Ich schließe die Tür hinter mir und lasse alle diese Geschichten dort. Kino mit einer Freundin ist jetzt angesagt. Ich muss nicht mehr sprechen, wir verstehen uns blind. Sie holt mich wieder in meine Realität zurück, ich fühle mich wohl.
Der nächste Tag, es ist wieder Hochbetrieb in meiner Praxis. Es wird wieder geschimpft und geweint. Ich frage, untertreibe, übertreibe, provoziere, denn ich möchte, dass die Leute wieder klar denken lernen. Ich will sie lachen sehen. Ich höre ihnen zu, eine Stunde lang, jede Woche, da es sonst niemand mehr tut.
Eine Patientin (27) erzählte mir vor zwei Wochen, sie hätte online einen Todestest gemacht und sei jetzt sehr beunruhigt. Im Internet entdecke ich Unglaubliches: »Willst du herausfinden, wann du stirbst? Beantworte zehn Fragen und finde heraus, wie lange du leben wirst. Berücksichtige deine Gewohnheiten und Gesundheit … das Leben ist kurz!« Ich bin irritiert.
Ich sitze am Schreibtisch in meiner Praxis. Ich habe eine Stunde für mich, die eigentlich nicht mir gehört, denn es türmt sich unerledigter Papierkram vor mir auf. Aus den Lautsprechern des Laptops tönt Musik von Beth Ditto: »It’s a cruel, cruel world, to face on your own … « Diese Frau ist so echt, so lebendig, und singen kann sie auch noch. Ich erinnere
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