Das Moskau-Komplott
er keine Antwort erhielt, zog er seinen Hauptschlüssel aus der Tasche und trat ein, gerade so weit, dass er zwei russische Halbschuhe Größe sechsundvierzig ein paar Zentimeter über das Bettende hinausragen sah. Er stellte die Koffer in den Eingangsflur und kehrte in die Lobby zurück, wo er Ricardo von seiner Beobachtung berichtete. »Stockbesoffen.«
Der Spanier blickte auf die Uhr. »Das ist früh, selbst für einen Russen.«
»Wir lassen ihn seinen Rausch ausschlafen. Morgen früh, wenn er einen ordentlichen Kater hat, gehen wir zu Phase zwei über.«
Der Spanier grinste. Bislang hatte noch kein Gast Phase zwei überstanden. Phase zwei endete immer verheerend.
2 Umbrien, Italien
Die Villa dei Fiori, ein dreihundert Hektar großes Gut in den welligen Hügeln zwischen den Flüssen Tiber und Nera, war schon seit jenen Tagen, als Umbrien noch von den Päpsten regiert wurde, im Besitz der Familie Gasparri. Das Gut beherbergte eine große, einträgliche Rinderzucht, ein Gestüt, in dem die besten Springpferde von ganz Italien gezüchtet wurden, Schweine, die niemand schlachtete, und eine Herde Ziegen, die nur ihres Unterhaltungswerts wegen gehalten wurden. Es besaß kakifarbene Heuwiesen, mit leuchtenden Sonnenblumenfeldern bedeckte Hänge, Olivenhaine, die das beste Öl Umbriens produzierten, und einen kleinen Weinberg, der jedes Jahr ein paar Zentner Trauben zur Ausbeute der örtlichen Genossenschaft beisteuerte. Am höchsten Punkt des Besitzes befand sich ein unbewirtschaftetes Waldstück, das angriffslustige Wildschweine für Spaziergänger unsicher machten. Überall auf dem Gut verstreut standen Madonnenschreine, und an der Kreuzung dreier staubiger Schotterstraßen erhob sich ein imposantes geschnitztes Kruzifix. Überall waren Hunde: ein Quartett durchstreifte Wiesen und Weiden und fraß Füchse und Kaninchen, und ein Paar neurotischer Terrier patrouillierte mit dem Eifer heiliger Krieger um die Ställe.
Die Villa selbst lag am Südrand des Guts und war über eine lange, von riesigen Schirmkiefern gesäumte Schotterzufahrt zu erreichen. Im elften Jahrhundert hatte hier ein Kloster gestanden. Davon geblieben waren eine kleine Kapelle und, im umfriedeten Innenhof, die Überreste eines Ofens, in dem die Mönche ihr täglich Brot gebacken hatten. Die Türen zum Hof waren aus dicken Bohlen gezimmert und mit Eisen beschlagen und machten den Eindruck, als sollten sie dem Ansturm der Heiden widerstehen. Hinter dem Haus befand sich ein großer Swimmingpool, und an den Pool grenzte ein Garten mit Pergola, an dessen etruskischen Mauern Kosmarin und Lavendel wuchsen.
Graf Gasparri, ein nicht mehr ganz junger italienischer Adliger mit engen Verbindungen zum Vatikan, vermietete die Villa nicht, noch hatte er die Gewohnheit, sie Freunden oder Verwandten zur Verfügung zu stellen. Umso überraschter waren die Bediensteten, als sie erfuhren, dass sie einen Langzeitgast aufnehmen sollten. »Sein Name ist Alessio Vianelli«, informierte der Graf Margherita, die Hauswirtschafterin, telefonisch von Rom aus. »Er arbeitet an einem besonderen Projekt für den Heiligen Vater. Sie sollen ihn nicht stören. Sie sollen ihn nicht ansprechen. Und, am wichtigsten, Sie sollen keiner Menschenseele sagen, dass er da ist. Für Sie ist dieser Mann eine Unperson. Er existiert nicht.«
»Und wo soll ich diese Unperson unterbringen?«, fragte Margherita.
»In der Herrensuite, mit Blick auf den Swimmingpool. Und entfernen Sie alles aus dem Salon, einschließlich Gemälde und Wandteppiche. Er möchte ihn zum Arbeiten benutzen.«
»Alles?«
»Alles.«
»Wird Anna für ihn kochen?«
»Ich habe ihm ihre Dienste angeboten, aber bis jetzt noch keine Antwort erhalten.«
»Wird er Gäste empfangen?« »Das ist nicht auszuschließen.«
»Wann dürfen wir mit ihm rechnen?«
»Das will er nicht sagen. Er hält sich recht bedeckt, unser Signor Vianelli.«
Wie sich herausstellte, traf er mitten in der Nacht ein - irgendwann nach drei, laut Margherita, die zu der Zeit in ihrem Zimmer über der Kapelle schlief und vom Lärm seines Autos geweckt wurde. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick von ihm, als er im Mondlicht über den Hof huschte, ein dunkelhaariger Mann, dünn wie ein Stecken, in der einen Hand einen Seesack und in der anderen eine Maglite. Im Schein der Taschenlampe las er den Zettel, den sie am Eingang der Villa angebracht hatte, dann schlüpfte er hinein wie ein Dieb, der in sein eigenes Haus schleicht. Augenblicke später ging
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