Das Moskau Virus: Roman (German Edition)
sagte der blonde Mann gelassen und warf ihm den Karton zu, den Kirianow unter dem Arm getragen hatte.
Der Doktor fing ihn auf, zerfetzte das Geschenkpapier und riss den Deckel herunter. Mappen voller Dokumente regneten auf den Leichnam herab. Hastig sah der Arzt die Papiere durch und nickte zufrieden. »Das sind die fotokopierten Befunde aus dem Krankenhaus«, bestätigte er. »Komplett, bis zur letzten Seite.« Er lächelte. »Wir können einen Erfolg melden.«
Der blonde Mann legte die Stirn in Falten. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Wo sind die Blut- und Gewebeproben, die er gestohlen hat?«, fragte der Blonde scharf und kniff die kalten grauen Augen zusammen.
Der Doktor starrte auf den leeren Karton in seiner Hand. »Mist.« Bestürzt sah er hoch. »Kirianow muss einen Komplizen gehabt haben. Die Proben hat jemand anders.«
»Es sieht ganz danach aus«, pflichtete der andere Mann ihm bei. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte eine verschlüsselte Nummer. »Hier ist Moskau-Eins. Ich brauche umgehend eine abhörsichere Verbindung mit Prag-Eins. Wir haben ein Problem …«
Teil eins
Kapitel eins
15. FEBRUAR
Prag, Tschechien
Im Schatten des Torbogens unter dem alten gotischen Turm am östlichen Ende der Karlsbrücke verharrte Lieutenant Colonel Jonathan »Jon« Smith, M. D. Die Brücke, die fast einen halben Kilometer überspannte, war vor mehr als sechshundert Jahren gebaut worden, als Übergang über die Moldau und Verbindung zwischen Prags Staré Mesto, der Altstadt, mit der Malá Strana, der Kleinseite. Smith blieb eine ganze Weile still stehen und betrachtete die vor ihm liegende Pflasterstrecke prüfend.
Er runzelte die Stirn. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn dieses Treffen an einem anderen Ort stattgefunden hätte, einer belebteren Stelle, die naturgemäß mehr Deckung bot. Über die breiteren neueren Brücken der tschechischen Hauptstadt rollten elektrische Straßenbahnen und der motorisierte Verkehr, die Karlsbrücke aber war für die reserviert, die zu Fuß über die Moldau wollten. Im düsteren Dämmerlicht des Spätnachmittags lag sie weitgehend verlassen da.
Die meiste Zeit des Jahres war die historische Brücke die Hauptattraktion der Stadt, die elegante Schönheit ihrer Konstruktion lockte scharenweise Touristen und in ihrem Gefolge Straßenverkäufer an. Doch an diesem Tag lag Prag in Winternebel gehüllt, in einer dicken Wolke aus kaltem Wasserdampf und stinkenden Abgasen, die im gewundenen Flusstal festhing. Der graue Dunst verschleierte
die anmutigen Silhouetten der Paläste, Kirchen und Häuser aus der Renaissance- und Barockzeit.
In der feuchtkalten Luft fröstelnd zog Smith den Reißverschluss seiner ledernen Bomberjacke zu, ehe er auf die Brücke trat. Er war ein großer, durchtrainierter Mann Anfang vierzig, mit glattem schwarzem Haar, durchdringend blauen Augen und hohen Wangenknochen.
Anfänglich hallte das Echo seiner Schritte vom hüfthohen Brückengeländer wider, doch dann verklang das Geräusch, verschluckt vom Nebel, der aus dem Fluss aufstieg und langsam über die Brücke waberte, sodass nach und nach beide Brückenenden dahinter verschwanden. Andere Fußgänger, meist Angestellte und Verkäufer auf dem Heimweg, tauchten aus den Schwaden auf, eilten an Smith vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und wurden dann ebenso schnell, wie sie erschienen waren, wieder vom Dunst verhüllt.
Smith ging weiter. Dreißig Heiligenstatuen säumten die Karlsbrücke, stumme, unbewegliche Figuren, die zu beiden Seiten aus dem stetig dichter werdenden Nebel ragten. Paarweise einander gegenüber aufgereiht auf den massiven Sandsteinpfeilern, auf denen die lange Konstruktion ruhte, dienten sie ihm als Führer zum vereinbarten Treffpunkt.
Als der Amerikaner die Mitte der Brücke erreicht hatte, blieb er stehen und schaute hoch. Er blickte in das gelassene Gesicht des Heiligen Johannes Nepomuk, eines 1393 zu Tode gefolterten katholischen Priesters, dessen verstümmelter Leichnam von eben dieser Brücke in den Fluss geworfen worden war. Ein Teil des vor Alter schwarz angelaufenen Bronzereliefs, auf dem das Martyrium des Heiligen dargestellt wurde, glänzte hell, blank gerieben von zahllosen Menschen, die es im Vorübergehen berührten, weil das Glück bringen sollte.
Spontan beugte Smith sich vor und strich selbst mit den Fingern über die erhabenen Figuren.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie abergläubisch sind, Jonathan«, sagte eine ruhige,
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