Das Moskau Virus: Roman (German Edition)
etwas Nadelspitzes tief in sein Fleisch eindringen. Er öffnete den Mund, um zu schreien, und bemerkte mit jähem Schreck, dass er nicht mehr atmen konnte. Seine Lungen waren gelähmt. Verzweifelt versuchte er, nach Luft zu schnappen. Seine Arme und Beine zuckten und bebten, während immer mehr Muskeln erstarrten. In Todesangst sah er zu dem Mann auf, der über ihm kniete.
Der verzog die dünnen Lippen zu einem angedeuteten Lächeln, das rasch wieder verschwand. »Do swidanja , Dr. Kirianow«, murmelte er. »Sie hätten den Anweisungen gehorchen und den Mund halten sollen.«
Gefangen in einem Körper, der den Befehlen des Gehirns nicht mehr folgen wollte, lag Nikolai Kirianow steif auf dem Boden, tonlos
schreiend, während die Welt um ihn herum in völliger und ewiger Dunkelheit versank. Sein Herz flatterte noch einige Augenblicke nutzlos und hörte dann auf zu schlagen.
Der blonde Mann hielt den Blick eine weitere Sekunde auf den mit offenem Mund daliegenden Leichnam gerichtet. Dann blickte er zum Kreis der neugierigen Passanten hoch, die von dem Tumult angezogen worden waren, und setzte eine überraschte und besorgte Miene auf. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihm!«, sagte er. »Ich glaube, er hat eine Art Anfall gehabt.«
»Vielleicht ist er beim Sturz mit dem Kopf aufgeschlagen. Wir sollten einen Arzt rufen«, schlug eine modisch gekleidete junge Frau vor. »Oder die Milizija .«
Der blonde Mann nickte knapp. »Ja, Sie haben Recht.« Er zog einen seiner dicken Handschuhe aus und holte ein Handy aus der Manteltasche. »Ich wähle den Notruf.«
Kaum zwei Minuten später hielt ein rot-weißer Rettungswagen am Bordstein an. Das blaue Blinklicht auf seinem Dach glitt über die kleine Zuschauergruppe und warf grobe, verzerrte Schatten auf das Pflaster und die umliegenden Häuser. Zwei bullige Sanitäter mit einer Tragbahre sprangen hinten aus dem Wagen, gefolgt von einem müde wirkenden jungen Mann, der einen zerknitterten weißen Kittel und eine schmale, rote Krawatte trug. In der Hand hielt er eine gewichtige schwarze Arzttasche.
Der Notarzt beugte sich einen Augenblick über Kirianow. Mit einer kleinen Stiftlampe leuchtete er dem Gestürzten in die offenen, starren Augen und fühlte nach dem Puls. Dann schüttelte er seufzend den Kopf. »Der arme Kerl ist tot. Ich kann nichts mehr für ihn tun.« Er blickte in die Gesichter ringsum. »Also, wer von Ihnen kann mir sagen, was hier vorgefallen ist?«
Demonstrativ zuckte der blonde Mann die Schultern. »Es war
ein Unfall. Wir sind zusammengestoßen, er rutschte aus und fiel auf das Eis da drüben. Ich habe versucht, ihm zu helfen … aber dann hat er einfach, na ja, aufgehört zu atmen. Mehr weiß ich wirklich nicht.«
Der Doktor runzelte die Stirn. »Verstehe. Also gut, leider werden Sie mit uns ins Krankenhaus kommen müssen. Es sind einige Formulare auszufüllen. Und die Polizei wird eine offizielle Aussage von Ihnen haben wollen.« Er wandte sich an die restlichen Zuschauer. »Was ist mit Ihnen? Haben Sie irgendetwas gesehen, das uns weiterhelfen könnte?«
Die Menge der Zuschauer blieb stumm. Mit betont ausdruckslosen Gesichtern wichen die Menschen zurück, manche waren bereits allein oder zu zweit weitergegangen. Nun da sie ihre Schaulust fürs Erste befriedigt hatten, wollte niemand sich den Abend damit verderben, in einer von Moskaus tristen und schäbigen Unfall- oder Polizeistationen unangenehme Fragen beantworten zu müssen.
Der junge Arzt schnaubte abfällig. Dann machte er den beiden Sanitätern mit der Liege ein Zeichen. »Packt ihn drauf. Wir fahren. Es hat keinen Sinn, noch länger in der Kälte herumzustehen.«
Schnell schnallten sie Kirianows Leichnam auf der Liege fest und schoben sie in den Rettungswagen. Einer der Sanitäter, der weißbekittelte Arzt und der blonde Mann stiegen hinten ein und setzten sich neben die Leiche. Der zweite Sanitäter schlug die Tür zu und nahm dann neben dem Fahrer Platz. Ohne das Blinklicht auszuschalten, fädelte der Rettungswagen sich in den starken Verkehr auf der Twerskaja ein und fuhr nach Norden.
Geschützt vor neugierigen Zuschauern durchsuchte der Arzt nun rasch die Taschen des Toten und sah sogar unter seiner Kleidung nach, fand aber nur die Brieftasche und die Krankenhauskennkarte des Pathologen, die er fortwarf, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. Mit finsterem Gesicht wandte er sich an die anderen. »Nichts. Gar nichts. Der Kerl ist sauber.«
»Dann schauen Sie mal hier hinein«,
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