»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
kann«, als »die Basis für die Regelung der heute lösbaren politischen Fragen mit den verschiedenen Staaten Osteuropas«. Mit anderen Worten: Unser Konzept sollte für die gesamte unüberschaubare Zeit bis zu einem Friedensvertrag unsere Beziehungen zu Osteuropa umfassend regeln. Das wurde damals in der Bundesrepublik nicht thematisiert, aber in der Sowjetunion mit Sicherheit sorgfältig analysiert. Außerdem hatte die Bundesregierung inzwischen den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet, was Gromyko an seine Begegnung mit Brandt in New York erinnert haben dürfte.
TEIL 3 – TRIUMPH UND TRAGIK
In Moskau
Botschafter Helmut Allardt begrüßte mich ziemlich zugeknöpft, verständlich, wenn ihm ein Mann, der noch nie in Moskau gewesen war, vor die Nase gesetzt wird. Es begann mit einem Missklang. Er hielt es für einen »Affront«, dass nur ein kleiner Protokollbeamter des Außenministeriums gekommen war, was »man die Sowjets schon erkennen lassen sollte«. Aber ich entschied selbst, wann ich mich unterbewertet fühlte.
Allardt erbot sich, einen mitgebrachten Cellokasten zu tragen, in der Annahme, etwas so Ausgefallenes könne nur dem Leiter der Delegation eingefallen sein. Stattdessen entpuppte sich der Cellokasten, in meiner Hotelsuite abgestellt, als unverhofftes Geschenk des Herrn von Tresckow aus der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes: eine veritable, mit Whisky und den notwendigen Gläsern ausgestattete Hausbar.
Während meiner kurzen Erklärung für das deutsche Fernsehen bekam ich einen Zettel in die auf dem Rücken verschränkten Hände gedrückt, mit dem Lednew seinen Anruf im Hotel ankündigte. Unsere Delegation war im 28. Stockwerk des Hotels Ukraina untergebracht. Der imposante Blick über das Lichtermeer reichte bis zu den angestrahlten goldenen Kreml-Kuppeln. Wie viele Schicksale toter und lebender Landsleute hatten sich in dieser Stadt entschieden! Wie ich sie verlassen würde, war ein durchaus bedrückender Gedanke. Erst viel später empfand ich, was Heinrich Albertz in seinen Memoiren ausgedrückt hat: »Von Brandt gedeckt, aber eben doch allein«, marschierte ich »vor der Front der offiziellen Politik«.
Lednew meldete sich. Im Hotelrestaurant steuerte er auf einen kleinen Tisch in der Mitte zu und warnte: »Nie an Ecken oder Säulen sitzen. Da wird abgehört.« Das konnte nur bedeuten: Der kommt nicht vom KGB. Leo, wie wir ihn bald nannten, teilte mit, die Botschaft werde morgen unterrichtet, dass Gromyko mich übermorgen empfängt. Leo erwies sich als ein der deutschen Literatur zutiefst verbundener Mensch, überzeugt, an einem neuen Verhältnis zwischen unseren Ländern mitwirken zu dürfen – zuverlässig, gradlinig und loyal.
Die Ministeretage befand sich – wie in Washington – im siebten Stock des Außenministeriums. Auf jeder Seite des Tisches saßen acht Personen. Gromyko kam als Letzter und begrüßte mich als Bekannten aus New York. Dann gab er, eine für ihn bequeme Höflichkeit, dem Gast das Wort. Ich referierte frei, aber anhand von Notizen, über die gesamte Konzeption unserer geplanten Ostpolitik. Wir durften nicht mit zwei Zungen sprechen, wenn Vertrauen entstehen sollte. Unsere Botschaftsleute notierten wie die Russen eifrig mit, denn auch sie hörten das zum ersten Mal. Nach einer halben Stunde antwortete Gromyko fast ebenso lang und war erstaunt, dass ich sofort auf seine kritischen Fragen antwortete. Die Diskussion dauerte drei Stunden.
Das Echo von Leo: Gromyko hatte Breschnew sechs Stunden lang berichtet. Wie es weitergehen solle, sei noch nicht entschieden. Die Perspektiven seien noch unklar. Er fragte, ob ich Professor Georgi Arbatow kennenlernen wolle, den Leiter des Amerika-Kanada-Instituts. Ich wollte. Erst zwanzig Jahre später erfuhr ich von ihm, dass der damalige Chef des KGB, Juri Andropow, ihn beauftragt hatte, mir auf den Zahn zu fühlen. Gleiches galt für die offizielle Verhandlungsebene. Bei dem zweiten Gespräch saß Wladimir Semjonow, der frühere Hochkommissar in Deutschland, neben Gromyko. Seine Beurteilung des Staatssekretärs aus Bonn sollte diejenige von Valentin Falin ergänzen, dem harten Brocken, der für Deutschland zuständig, aber noch nie in Deutschland gewesen war. Wir sprachen wieder drei Stunden lang; das wurde dann zweimal wöchentlich unser Pensum. Plötzlich registrierte ich einen kleinen Fehler: Gromyko kannte die Implikationen der Artikel 53 und 107 der UN-Charta für Deutschland nicht. Weil ich ihn nicht blamieren durfte,
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