»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
korrigierte ich ihn milde, verbunden mit Komplimenten für sein berühmtes Gedächtnis. Semjonow und Falin lächelten genießerisch, während Gromyko, der große Könner, sich die Korrektur ganz unbewegt zu eigen machte. Ich erfuhr, was innerliche Entspannung bedeutet.
Leo machte mich mit »Slawa« bekannt. Breitschultrig, schwer, mit eisernem Händedruck und großen dunklen Augen. Den Nachnamen erfuhr ich nicht. Er führte das Wort, war also übergeordnet, was mich später gegenüber Brandt vermuten ließ, beide gehörten wohl dem Apparat des Generalsekretärs an, seien jedenfalls Gromyko übergeordnet. Wir aßen im Journalistenclub, in dem schon Gorki gezecht hatte, als Slawa bemerkte, er habe Waleri so verstanden, dass ich den Wunsch geäußert hätte, Kossygin zu sprechen. Nach der Erfahrung in New York reagierte ich sofort: Das habe er richtig verstanden. »Dann werden wir das versuchen.«
Bei einem Abendspaziergang überboten sich Slawa und Leo mit Komplimenten. Drei Stunden hätte das Politbüro beraten, ob Kossygin mich empfangen solle. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hätte man seriös über die deutschen Dinge gesprochen. Am nächsten Morgen in der Botschaft warf niemand die Frage auf, wie die Einladung von Kossygin zu erklären sei. Am Nachmittag berichtete Leo von Komplikationen: »Der Mann mit dem Bart hat angerufen.« Fast hysterisch habe Ulbricht reagiert, als ihm mitgeteilt worden sei, dass Kossygin mich sehen wolle. »Es stand auf des Messers Schneide, aber es bleibt dabei.«
Während die sowjetische Seite vielleicht nervös geworden war, weil sie keinerlei Weisungen aus Bonn an mich abhören, entschlüsseln oder aufdecken konnte, war ich wirklich nervös: Auf keinen unserer zahlreichen Berichte hatten wir irgendein Echo erhalten, keine Rückfragen, keine Hinweise, keine Empfehlungen. Deshalb war ich gespannt, als ich hörte, dass Scheel auf dem Weg nach Indien in Moskau zwischenlanden würde. Eine Gruppe sowjetischer Diplomaten, von Semjonow angeführt, bat den deutschen Außenminister zu einem ausgedehnten, fröhlichen Imbiss. Semjonow hatte angeordnet, dass die Maschine der Air India so lange Maschinenschaden habe, wie der Imbiss mit dem Gast dauere. Eine interessante Machtdemonstration. Meine besorgte Frage beantwortete Scheel: »Solange wir nichts von uns hören lassen, ist alles in Ordnung. Machen Sie einfach weiter.« In der Nacht fand ich nur wenig Schlaf, weil ich mich auf das Treffen mit Kossygin vorbereiten musste. Es würde über Scheitern oder Gelingen der Mission entscheiden.
Am nächsten Morgen Fahrt in den Kreml. Der Mercedes hielt vor einem unscheinbaren Eingang. Ein Protokollmensch begrüßte auf Deutsch. Ein Gardeoffizier salutierte wortlos und winkte in einen Fahrstuhl. Oben schritt er gravitätisch durch einen langen Flur, ich folgte ihm. Kein Laut zu hören, kein Mensch zu sehen. Der Offizier öffnete eine Tür; der Protokollmensch murmelte etwas von Stalins Arbeitszimmer. Eine hohe Doppeltür wurde geöffnet. Kossygin kam mir wenige Schritte entgegen, reichte mir die Hand, winkte mich an einen langen Tisch, an dessen Ende sein Schreibtisch stand, und setzte sich mir gegenüber, mit dem Rücken zum Fenster. Sein Dolmetscher übersetzte die Begrüßung: »Ich höre.«
Es wurde der schwierigste und unangenehmste Monolog meines Lebens, ehe es zu einer Art Gespräch kam. Sein Gesicht blieb starr, die blauen Augen eisig. Ich überbrachte Grüße des Bundeskanzlers und trug das deutsche Konzept des Gewaltverzichts vor. Nach einer Viertelstunde ohne jede Reaktion wurde ich schärfer, ohne dass mein Gegenüber sich regte, um schließlich fast provozierend zu sagen: »Schweigen genügt nicht.« Das konnte er auf sich beziehen oder auch auf seinen Außenminister. In den Gesprächen mit Gromyko hatte sich unsere Position, dass dem deutschen Volk langfristig nicht die Aussicht auf staatliche Einheit verbaut werden dürfe, als großes Hindernis herausgestellt. Als Realisten wüssten wir, fuhr ich fort, dass ihm Ulbricht näher stünde als Brandt. Auf beiden Seiten dürfe kein Misstrauen zwischen Verbündeten aufkommen.
Endlich antwortete er, dass über langfristige Ziele jetzt nicht zu sprechen sei. »Wir rasseln nicht mit dem Säbel«, aber der neue Verteidigungsminister in Bonn wolle die Stärke der Bundeswehr weiter erhöhen. Andere Kräfte seien interessiert, dass die Bundesrepublik einen Schild gegen die Sowjetunion bilde. Ich erwiderte, wir hielten uns verlässlich an die dem
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