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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Menschen. Einige überzeugt von ihrer Kanzlerfähigkeit, viele mit dem Willen zur Fortsetzung der Großen Koalition unter Kiesinger. Erschreckende Vorstellung: Unsere Entspannungs- und Ostpolitik wäre Planspiel geblieben.
    Und dann, während die Fernsehbilder noch einen siegessicheren Kiesinger und einen triumphierenden Barzel zeigen und die Glückwünsche Nixons vermelden, tritt Brandt auf, der nach dem entscheidenden Telefonat mit Scheel den Zugriff auf die Macht verkündet, und alle folgen der charismatischen Führung. Nach dem extremen Auf und Ab der Gefühle entlädt sich die Freude in lachenden Umarmungen, als ob es gar nicht anders hätte kommen können.
    Im Zimmer des neuen Bundeskanzlers wage ich unter vier Augen eine scheue Gratulation: »Nach der fast zehnjährigen Zusammenarbeit habe ich einen oft vergeblich ersehnten Willy Brandt kennengelernt. Und das tut gut.« Er nimmt es ohne Echo an. Wie selbstverständlich beginnt die neue Zusammenarbeit. Ich gebe ihm eine Analyse seiner Situation, die der des »president elect« in den USA entspricht. Wir haben in der Bundesrepublik dafür keine Erfahrung. »Du betrittst in den nächsten zwei Wochen eine Schneedecke, die noch ohne Spuren ist. Alle Erfahrungen in Amerika sprechen eindeutig dafür, dass der Künftige sich in dieser Zeit jeder öffentlichen Äußerung zu irgendeiner Sache mit irgendeiner Substanz enthält.« Außerdem lege ich ihm nahe, Kiesinger zu schreiben, »sich als im Urlaub befindlich zu betrachten«.
    Dann müssen Briefe an andere Regierungschefs entworfen werden, die schon gratuliert haben, darunter an den »Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR«, den »Kollegen Kossygin«, wie ihn Brandt fröhlich nennt. Er bietet ihm »die Bereitschaft zu einem vertraulichen Meinungsaustausch zur Verbesserung der Beziehungen zwischen unseren Ländern« an.
    Am nächsten Tag rufe ich Nixons Sicherheitsberater Henry Kissinger an. Der entschuldigt sich wiederholt. Man sei von der Nachrichtenlage ausgegangen, nach der Kiesinger sicher wiedergewählt sei. Weder beim Präsidenten noch bei der Administration gebe es eine Präferenz. Man freue sich auf die Zusammenarbeit mit einer Regierung Brandt. Ich zeige mich versöhnlich: Man solle die Geschichte vergessen. Kissinger kündigt an, er werde mich offiziell über das Außenministerium zu einem Besuch in Washington einladen. Brandt ist amüsiert. Es schade gar nichts, wenn die Weltmacht ein bisschen Schuldgefühle habe.
    Auch den neuen Bundeskanzler bewacht nicht die Bundeswehr, sondern der Bundesgrenzschutz. Sein Musikcorps lässt nach dem Preußischen Präsentiermarsch die »Berliner Pflanze« folgen. Während Brandt die Front abschreitet, steif und mit erstarrtem Gesicht, fühle ich mich in der Ansicht bestätigt, dass ohne das Außenministerium der Sprung vom Schöneberger Rathaus ins Palais Schaumburg nicht geglückt wäre.
    Gegen das Büro Hans Globkes, des umstrittenen Kanzleramtschefs Adenauers, das ich beziehe, ist nichts einzuwenden. Gesonderter Ausgang für Besucher, die am Sekretariat vorbeigehen sollen, eigene Toilette, eine Telefonverbindung zum Kanzler, die er mehr als ich benutzen wird, ein gesondertes Telefonsystem zu den Ministern und ein »normaler« Apparat. Das große Moltke-Gemälde von Lenbach beherrscht den Raum. Die rücksichtsvoll gemeinte Frage des Personals, ob ich es auszutauschen wünsche, erhält ein entschiedenes »Natürlich nicht«. Unnötiges öffentliches Gerede hat »der große Schweiger« für schädlich gehalten. Das gilt in der Demokratie erst recht. Auch Brandt ändert im Kanzlerbüro nichts. Er sitzt am Schreibtisch Adenauers, mit derselben Einrichtung einschließlich der Bilder. Er will in dieser Tradition wahrgenommen werden.
    Auftakt in Washington
    Die schnelle Einladung führte dazu, dass Kissinger noch vor Abgabe der Regierungserklärung eine offene und umfassende Darstellung der Ostpolitik der neuen Koalition erhielt. Es wurde ein spannender Probelauf, denn ohne die Rückendeckung, mindestens die Duldung der Amerikaner wäre dieser politische Richtungswechsel ein Abenteuer gewesen, ein unmögliches Risiko. Dass der Sicherheitsberater Nixons in einem kleinen Kellerraum des Weißen Hauses saß, hatte ich nicht erwartet. Henry war misstrauisch und stellte viele Fragen, aus denen Zweifel hervorgingen, ob die neuen Leute in Bonn die Dimension ihrer Absichten übersahen. Immerhin war es nicht alltäglich, dass die Deutschen wieder mit den Russen über die Köpfe der

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