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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Bündnis zugesagte Höchststärke von 495 000 Mann, seien aber bereit, das gesamte schwere Brückenbaugerät zu reduzieren. Da in unserem Teil Europas die Flüsse von Süden nach Norden fließen, wäre das ein Beweis unserer rein defensiven Haltung. So war es zwischen Brandt und dem Verteidigungsminister Georg Leber besprochen. Wir würden auch alle Feldlazarette abschaffen, die nur für offensive Absichten unerlässlich seien. Das haben die sowjetischen Militärexperten dann bestätigt. Tatsächlich erreichte die Bundeswehr ausgerechnet zu Beginn unserer Entspannungspolitik die höchste Mannschaftsstärke überhaupt, ohne dass dies Folgen hatte.
    Kossygin monierte, dass in der Bundesrepublik immer noch die Wiederherstellung der deutschen Einheit in den Grenzen des Jahres 1937 gefordert werde; wer so denke, könne Krieg nicht ausschließen. Ich verwies auf Brandts Regierungserklärung, die einen Gewaltverzicht für alle Staaten in ihren jetzigen Grenzen anstrebe, konnte ihm aber nicht den Rat ersparen: »Seien Sie misstrauisch gegen jeden, der behauptet, die Deutschen hätten sich mit der Teilung abgefunden; der ist ein Dummkopf oder ein Lügner.«
    Kossygin erklärte sich dann zur Fortsetzung des strikt vertraulichen Meinungsaustauschs mit dem Bundeskanzler bereit und fragte, ob ich Parteikontakte für nützlich halten würde. Da die Partei in seinem Land den Staat lenke, könne das beiden Seiten zugutekommen. Das war der Übergang zu ideologischen Fragen, die bei Gromyko keine Rolle gespielt hatten. Ich konnte ihn beruhigen: Wir sprächen nur von friedlicher Koexistenz; ideologische Koexistenz sei für beide Länder schädlich und für beide Parteien Gift. Jedenfalls war es der Sowjetunion immer leichter gefallen, mit bürgerlichen Parteien zusammenzuarbeiten. Wie sie es mit der neuen Realität einer sozialdemokratischen Bundesregierung halten würde, versuchten wir gerade festzustellen.
    Endlich lockerte sich mein Gegenüber und begann von den wirtschaftlichen Problemen seines Landes zu sprechen. Unsere Zusammenarbeit sei nur von relativer Bedeutung angesichts der ungleichen Größenordnungen. Kossygin war in Wahrheit der Generaldirektor des größten Betriebes der Welt, genannt Sowjetunion, aber bestimmt kein politischer Verhandlungspartner für Willy Brandt. Zum Schluss fragte er, ob ich sonst noch etwas vorzubringen hätte. Ich bat, Ausreisewünsche in besonders schwierigen Fällen wohlwollend zu prüfen. »Wie viele sind das?« Ich griff eine Zahl aus der Luft: »Zweiundsechzig.« »Geben Sie die Liste Falin.« Aus den zweiundsechzig »Fällen« wurden dann 196 Personen – Alte, Junge, vergessene Kriegsgefangene, Ostpreußen, viele schon mehrfach abgewiesen. Trotz der Zweifel in der Botschaft wurde für die Liste hart gearbeitet. Falin erhielt sie vor meinem Abflug, und einen Monat später sah ich 196 glückliche Menschen im Garten der Botschaft. Wir hüteten uns vor jedem öffentlichen Triumph. Unser Kredit sollte erhalten bleiben.
    Dann kam Ulbricht selbst nach Moskau. Um alle Komplikationen zu vermeiden, lud Gromyko meinen wichtigsten Mitarbeiter Carl-Werner Sanne und mich zu einem Besuch nach Leningrad ein. In einem Expresszug, der schön langsam fuhr, um nicht vor dem nächsten Morgen anzukommen, erzählte unser Begleiter Leo, Kossygin hätte positiv über unser Gespräch berichtet, auch weil ich vieles gesagt hätte, was gar nicht gefiel. »Sie ahnen nicht, was in der Führungsgruppe stattfindet. Sie müssen uns Zeit geben. Wir haben es schwerer als Sie. Wir haben unsere Verbündeten. Die Deutsche Frage ist kompliziert.« Das hatte schon Arbatow gesagt. Praktisch verlangte unsere Position eine Neuorientierung der sowjetischen Politik. Moskau war darauf viel weniger vorbereitet, als ich vorausgesetzt hatte. Meine ursprüngliche Annahme, in zwei Wochen im Prinzip klären zu können, ob unser Konzept tragfähig wäre, war völlig irreal. Wie lange es dauern würde, den Riesentanker Sowjetunion umzulenken, entzog sich jeder zeitlichen Prognose.
    Slawa und Leo verdankte ich die Einsicht: Das sowjetische System war gar nicht geschlossen, sondern nur verschlossen. Die öffentliche Meinung im Westen bereitete in der Regel Entscheidungen vor, die kaum noch überraschend waren, wenn sie verkündet wurden. Ein solcher Prozess kam uns langsam vor. In Moskau dauerte er viel länger. Auch dort gab es Pluralismus: unterschiedliche Meinungen und Interessen zwischen den Apparaten der Politik, des Militärs, des

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