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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Geheimdienstes, der Verwaltung und zwischen Personen. Es funktionierte nicht nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam. Das kam uns nur so vor, weil der innere Entscheidungsprozess geheim gehalten und wichtige Entscheidungen gern am Wochenende bekanntgegeben wurden. Der Vorteil: Sie überraschten; der Nachteil: Sie schürten den Ruf der Unheimlichkeit und Unberechenbarkeit. Relikte sowjetischer Mentalität sind bis heute erkennbar.
    Slawa und Leo machten ihr System für uns durchsichtiger. Die inneren Prozesse wurden erkennbar, zum Teil einschätzbar und öffneten sogar Möglichkeiten der Beeinflussung. Sie handelten als Patrioten in der Überzeugung, dass Amerika als einziger Orientierungspunkt sowjetischer Außenpolitik nicht reiche; dass Europa und Deutschland unverzichtbar werden würden. In den folgenden Jahrzehnten haben sie uns niemals falsch informiert. Es kam vor, dass sie etwas nicht wussten oder sagen durften, aber auf ihr Wort war immer Verlass. Das hat Vertrauen geschaffen, von Brandt und Schmidt bis zu Kohl.
    Die überwältigenden Eindrücke der Leningrader Eremitage konnten die Bedrückung über die Verhungerten, die Getöteten, die Erfrorenen nicht löschen. Der Friedhof für eine Million Menschen ist unvergesslich. Daran konnten weder das imposante Gebäude des Smolny noch die anderen Geburtsstätten der großen Oktoberrevolution etwas ändern. Die Trauer um zwanzig Millionen sowjetische Opfer verlangte von Seiten der sowjetischen Führung eine überzeugende Begründung für eine neue Politik gegenüber den Deutschen. Valentin Falin hatte alle Angehörigen in Leningrad verloren und sich unserer Geschichte und Sprache zugewandt, um zu begreifen, wie ein großes Kulturvolk so barbarisch handeln konnte. Er wurde mein Partner in längeren und intensiveren Gesprächen als mit Gromyko.
    Grenzen akzeptieren –
Grenzen überwinden
    Gromyko ließ von allem Anfang an nichts an Klarheit zu wünschen übrig: »Solange wir uns nicht über die Grenzen geeinigt haben, haben wir uns über nichts geeinigt.« Damit waren auch die Grenzen seiner Verbündeten gemeint. Das von vielen europäischen Nachbarstaaten gefürchtete deutsch-russische Gespräch über ihre Köpfe hinweg war unvermeidbar, weil nur Moskau entscheidungsfähig und gesprächsbereit war. Ich hatte schon deshalb nichts dagegen, weil so der Zeitbedarf abgekürzt wurde, vor allem aber, weil die unbestrittene Führungsmacht des Ostblocks für die erhofften Ergebnisse unserer Politik verantwortlich eingebunden werden musste.
    Unter dem Kernkomplex »Grenzen« rangierten fast alle Verhandlungsergebnisse mit Moskau. Stunden, Tage und Wochen haben Falin und ich unter vier Augen Vokabeln gesucht und verworfen. Unbezweifelbar war das sowjetische Interesse, die Grenzen unveränderbar, unangreifbar zu machen. Gerade der unantastbare Status quo aber war für uns unannehmbar. Nach dem Grundgesetz und unserer Überzeugung musste Deutschland die Chance der Vereinigung behalten. Deutsche Selbstbestimmung musste erhalten, die Deutsche Frage insofern offen bleiben. So entstand schon während der ersten Verhandlungsrunde die Idee zu einem Brief, den ich mit Sanne ausarbeitete und den die sowjetische Seite unwidersprochen annehmen sollte, wonach friedliche Selbstbestimmung für alle Deutschen unserem Vertrag nicht widerspreche. Wir fanden endlich die Vokabel »unverletzlich«, was Veränderungen im gegenseitigen Einvernehmen ermöglichte, zumal der später so genannte »Brief zur Deutschen Einheit« hinzukam.
    Der Begriff »unverletzlich« trug bis zur KSZE-Schlussakte von Helsinki fünf Jahre später. Alle nahmen ihn an: die Staaten der NATO (auch die USA), des Warschauer Paktes und auch die Neutralen, weil alle überzeugt waren, ohne es auszusprechen, dass damit die deutschen Querelen ausgestanden wären. Eine einvernehmliche, friedliche Aufhebung der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten konnte sich keiner vorstellen. Allein die Bundesregierung sah Helsinki als Beginn eines Prozesses, an dessen Ende die Vereinigung stehen würde.
    Der zweite Komplex hing mit den Grenzen unserer Kompetenz zusammen. Beide deutschen Staaten waren nicht souverän. Die unkündbaren Siegerrechte über Deutschland als Ganzes lagen bei den Vier Mächten. Mein plausibles Argument, es könne nicht das Interesse der Sowjetunion sein, ihre Mitbestimmung über Deutschland an Ulbricht zu übertragen, schon gar nicht durch einen separaten Friedensvertrag mit der DDR, nahm Gromyko an, ohne es zu

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