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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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nach Berlin, das visumfrei aus der ganzen Welt besucht werden konnte. Nicht nur für die spätere Berlin-Regelung wurden beide unentbehrlich.
    Für Breschnew war Brandt der erste westliche Staatsmann, dem er begegnete. Er gewann Spaß an den verlässlichen Informationen, die er nicht über seinen Außenminister erhielt. Die Chemie zwischen beiden stimmte. Sie liebten Wein, Weib und Gesang, und auf Mahnungen der Ärzte, kürzer zu treten, hätten beide bestimmt beschlossen, das Singen einzustellen.
    Im Laufe der Jahre bekamen beide Kanäle, der nach Washington und der nach Moskau, einen institutionellen Charakter. Nicht nur auf höchster Ebene wurden Briefe ausgetauscht, sondern auch auf der Ebene der Mitarbeiter. So kamen sowohl aus Washington als auch aus Moskau Warnungen vor Attentaten, oder ich erbat eine Antwort auf die informelle israelische Anfrage nach diplomatischen Beziehungen zu Moskau, die durch Breschnew gar nicht gegeben werden sollte.
    Brandt empfand eine Sympathie für Breschnew, die er zu Nixon nie entwickelte. Ohne die Neigung zu Brandt hätte Breschnew in der späteren Entwicklung nicht Ulbricht und dann Honecker beschwindelt. Breschnew erhielt Einsichten, die keiner seiner Dienste ihm verschaffen konnte. Beide Hauptstädte waren sicher, wo Bonn stand. Das Vertrauen in die Person Willy Brandts ließ beide Kanäle blühen. Zu Washington entwickelte sich eine Intensität des Austauschs, die später kaum wieder erreicht wurde. Zu Moskau blieb das Verhältnis ungetrübt, solange Brandt und Breschnew verantwortlich waren.
    Voraussetzung dafür: Beide Kanäle mussten dicht bleiben. Sie blieben es. Nach dem Rücktritt Brandts informierte ich Helmut Schmidt über Existenz und Charakter der Verbindung zum Kreml, und er bat mich, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen und sie als Bundesbevollmächtigter in Berlin weiterzuführen. Nach seinem Rücktritt habe ich, ohne ihn oder Brandt zu fragen, Helmut Kohl unterrichtet. Nach einer Nacht Bedenkzeit rief er an und gab grünes Licht für die Weiterführung: »Man kann ja nicht wissen, was noch alles passiert. Die Einzelheiten besprechen Sie bitte mit Teltschik.« Gemeinsam mit dem Mann aus Moskau übergaben wir den Kanal in aller Form. Während die neuen Koalitionäre ein Stockwerk tiefer ihre Außenpolitik zu besprechen begannen, hatte Kohl, wie der neue Kanzleramtschef Horst Teltschik lächelnd bemerkte, schon einen Nagel eingeschlagen. Der Vorgang ließ mich zu Willy sagen: »Unsere Ostpolitik ist in guten Händen.«
    »Dann mach mal«
    Nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages wollten wir zügig weitermachen. Ein Vertrag mit Polen stand ganz oben auf der Tagesordnung, ebenso eine Regelung der Berlin-Frage durch die Vier Mächte. Zurück in Bonn, suchte mich der für uns »zuständige Betreuer« der CIA auf (jede Partei hatte »ihren« Betreuer). »Unsere Leute in Washington wollen wissen, worüber wir in Berlin eigentlich verhandeln sollen«, erklärte er, »da haben wir doch nur schlechte Karten.« Ich beruhigte ihn mit der Versicherung, ich hätte genaue Vorstellungen und würde sie schnell übermitteln. Jetzt bestand dringender Gesprächsbedarf mit Brandt. Ich lud ihn zu einem kleinen Happen nach Hause ein. Sein Lieblingsessen, Kartoffelpuffer, schied aus, denn es hätte gestört, immer wieder frische aufzutischen. Also Linsensuppe. Sein rustikaler Geschmack hatte Brandt nicht daran gehindert, in Moskau mit großem Behagen Kaviar zu genießen.
    Hier ist eine grundsätzliche Klarstellung nötig: Alle vor 1991 entwickelten ostpolitischen Vorstellungen, Pläne und Ideen gingen von der Annahme aus, dass die Sowjetunion und der Warschauer Pakt auch in Zukunft bestehen bleiben würden. Die Ereignisse des Jahres 1991, die die Implosion eines Weltreiches brachten und das Ende des Warschauer Paktes einleiteten, wurden im Westen nicht erahnt. Die Erwartungen und Hoffnungen richteten sich auf eine Art Liberalisierung des Systems mit friedlicher Koexistenz und konstruktiver Zusammenarbeit, wobei die fortbestehenden ideologischen Differenzen in einer Kultur des Streits dem gemeinsamen Ziel des Friedens unterzuordnen wären. Auch Brandt und ich konnten die Auswirkungen der Entspannungspolitik weder voraussehen noch einplanen.
    Unser Gespräch bewegte sich auf gewohntem Boden. Verglichen »mit unseren Freunden in Washington und Moskau«, wie Willy sagte, hatten wir einen Vorsprung vor allen Beteiligten, weil wir vertraut waren mit den Bedürfnissen Berlins und der

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