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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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des polnischen Diplomaten aus Wien war direkt in den Akten gelandet. Kliszko machte sich kundig und gab ihn Gomułka. Am Abend des 7. Dezember 1970 ging ich Arm in Arm mit Stehle zu einer deutschen Journalistengruppe und hörte Kliszko sagen: »Wenn dieser Stehle mich damals in Bologna nicht auf Ihr Gespräch in Wien aufmerksam gemacht hätte – wer weiß, ob wir schon hier in Warschau zusammensäßen.« Im Kalten Krieg konnte es von grotesken Zufällen abhängen, ob die Gesprächsbereitschaft die andere Seite zur rechten Zeit erreichte.
    Am 6. Dezember 1970 begrüßte Cyrankiewicz den Kanzler protokollgerecht am Warschauer Flughafen. Er entschuldigte sich später für sein bemühtes Deutsch: Er sei noch als Untertan des Habsburger Reiches geboren. Leise sprach er zu Brandt über die große sozialistische Familie. Diese Polen wussten einen Sturm der Gefühle zu entfachen. Der polnische Delegationsleiter der Vertragsverhandlungen, Vizeaußenminister Józef Winiewicz, begründete sein fehlerfreies Deutsch: Bei seiner Geburt hätte es keinen polnischen Staat gegeben; die deutsche Sprache hätte er in der deutschen Schule gelernt und weder im Exil in London noch an der Botschaft in Washington ganz vergessen. Ich erzählte von meinen schlesischen Verwandten, von ostpreußischen Erinnerungen der Großmutter, die den Transport im Viehwagen nach Westfalen gerade noch überlebt hatte; er berichtete von seinen im Krieg getöteten Angehörigen. Meinen Bericht über die schwierigen Gespräche mit DDR-Unterhändler Michael Kohl kommentierte er knapp: Die DDR habe Minderwertigkeitskomplexe. Bonn sei schon zu groß für die Franzosen, erst recht für seinen unmittelbaren östlichen Nachbarn. Wir sollten großzügig sein und Adenauer ein Denkmal bauen, weil er die deutsche Teilung garantiert habe: »Seien Sie ehrlich. Das ist doch besser für alle.« Statt gegen seine geistvolle Übertreibung zu protestieren, empfand ich Mitgefühl: Wir hatten die Realität der Führungsmacht in Moskau für uns genutzt, Warschau musste ihr folgen.
    Für Brandt hatte seine aus Warschau nach Deutschland übertragene Fernsehansprache fast gleiches Gewicht wie die Vertragsunterschrift, mit der die Oder-Neiße-Grenze bestätigt und Gebietsansprüche aufgegeben wurden. Der Danziger Günter Grass und der Ostpreuße Siegfried Lenz halfen bei der Formulierung. Der Kanzler wusste: Niemand würde Deutschland je in die Freiheit seiner Einheit entlassen, wenn danach territoriale Forderungen erhoben werden könnten. Das sollte sich zwanzig Jahre später während der Zwei-plus-Vier-Gespräche bestätigen. Aber für die Heimatvertriebenen wurde der Verlust von Hoffnungen nicht dadurch leichter, dass er sich als Verlust von vehement gepflegten Illusionen erwies. Und für Brandt wurde das innenpolitische Risiko nicht dadurch kleiner, dass die Polen nur die späte Bestätigung des Selbstverständlichen erhielten.
    Brandts Kniefall habe ich nicht gesehen. Beitz und ich sprachen im Wagen über unsere Eindrücke und schlenderten zum Ghetto-Denkmal, vor uns eine Wand von Journalisten, als es plötzlich ganz still wurde. Auf die Frage, was denn los sei, zischte einer: »Er kniet.« Am Abend allein mit dem Freund, traute ich mich zu sagen: »Das war aber doll.« Darauf Brandt: »Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht.« Da hatte einer, der frei von geschichtlicher Schuld war, geschichtliche Schuld seines Volkes bekannt. Mehr musste nicht gesagt werden.
    Nachdem ich Kliszko zur »Betreuung« zugeteilt worden war, zeigte er mir die Altstadt, eine Ausstellung moderner Malerei, wie sie weder in Moskau noch in Ostberlin zu sehen gewesen wäre, und lud zum Essen in ein Restaurant, in dem wir freundlich begrüßt wurden. Ohne Begleitung oder Bewachung mischten wir uns unter die Gäste. »Können Sie sich vorstellen, mit Suslow oder Axen einen solchen Stadtbummel zu machen?« Auch ohne die Chefideologen Moskaus und Ostberlins zu kennen, konnte ich das nicht. Über europäische Sicherheitsvorstellungen müssten wir in Ruhe sprechen. Dazu lud er mich zu Weihnachten nach Masuren ein.
    Am Verhandlungstisch erläuterte Brandt seine Absicht, die Beziehungen zu Polen zu einem vergleichbaren Gewicht zu entwickeln wie diejenigen zu Frankreich. Das fand keinen Widerhall. Auch der Vorschlag, ein deutsch-polnisches Jugendwerk zu schaffen, wurde nicht beantwortet. Vierundzwanzig Jahre später reiste Richard von Weizsäcker zu seinem letzten Staatsbesuch nach Warschau.

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