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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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bestätigen. Ein Friedensvertrag der Sowjetunion mit der DDR, der seit Chruschtschows Ultimatum von 1958 im Raum gestanden hatte, war damit vom Tisch.
    Berlin war komplizierter. Dort hatte Bonn überhaupt keine Kompetenz, aber vitale Interessen. Über Berlin wollte ich sprechen, aber nichts vereinbaren. Als Gromyko das realisierte, änderte er seine Position, wollte über Berlin nur noch mit den Westmächten reden und stellte damit die Aufgabe, wie die Bundesrepublik, die nicht am Tisch des Kontrollrats in Berlin sitzen durfte, dennoch die Verhandlungen mitbestimmen könnte.
    Die informelle Ebene informierte, dass DDR-Ministerpräsident Willi Stoph dem Bundeskanzler ein Treffen vorgeschlagen hatte, ohne Moskau zu konsultieren. Sie erfuhr über mich früher als durch Ostberlin, dass Brandt das Treffen vorbereiten ließ. Ich blieb in Moskau, denn der Nachweis unserer Aufrichtigkeit gegenüber Moskau war wichtiger als meine Teilnahme in Erfurt. Über eine verschlüsselte Standleitung erhielt Moskau aus Bonn schneller, korrekter und ausführlicher als aus Ostberlin Bericht über den für die DDR nicht angenehmen Ablauf der Ereignisse in Erfurt mit dem Durchbrechen der Absperrungen. Die abwiegelnde Handbewegung Brandts am Erfurter Hotelfenster gegenüber den »Willy«-Rufern wurde registriert. Leo: »Was immer man über die DDR denkt, wenn die absperren wollen, können sie das.«
    Das erste Treffen der beiden deutschen Regierungschefs war eine Nachricht. Aber überzeugender waren die Bilder aus Erfurt. Sie zeigten, für viele in Ost und West überraschend: Wenn man die Deutschen lässt, wollen sie sich vereinigen. In der Substanz konnte in Erfurt nichts entschieden werden, solange wir in Moskau nichts entschieden hatten.
    Dort formulierten wir das Ergebnis unserer Arbeit in zehn Punkten. Ich muss »wir« sagen, denn es war eine Gemeinschaftsarbeit. Gromyko, Falin und ich waren die Autoren. Dass das Dokument später »Bahr-Papier« genannt wurde, war irreführend und ungerecht, denn Falins Anteil an der einfachen und ziselierten Sprache war unentbehrlich. Bevor wir das Papier unseren Regierungen mit der Empfehlung vorlegen konnten, nun mit Verhandlungen zu beginnen, quälte mich Gromyko. Obwohl die Texte schon abgestimmt waren, stellte er in Aussicht, den Brief zur Deutschen Einheit anzunehmen, falls die Grenzformel »unverletzlich« etwas schärfer gefasst würde. Damit hatte er den Bogen überspannt. In einem persönlichen Brief teilte ich ihm »meine feste Überzeugung« mit, dass es bei den Texten bleiben müsse, die »den Zielen und den Interessen unserer beiden Regierungen« entsprächen. »Ich kann und werde nach den in stundenlangen Diskussionen gemachten Erfahrungen auch meiner Regierung gegenüber keinen anderen Standpunkt vertreten.« Erst danach informierte ich Scheel von meinem Alleingang.
    Am nächsten Morgen erschien Falin und fragte, ob mein Brief auch die Meinung der Bundesregierung sei. Er hatte den entscheidenden Punkt getroffen. Ich log: »Ja.« Nach einer Weile stieß Gromyko hinzu: Er habe vor der letzten Sitzung keine Zeit gefunden, den von Falin und mir ausgearbeiteten Text zu prüfen. Inzwischen habe er ihn gelesen und könne ihm zustimmen. Ohne meine riesige Erleichterung zu zeigen, kündigte ich meinen positiven Bericht in Bonn an. In der Botschaft gratulierte Allardt mit Champagner. Dann traf ein Telegramm des Außenministers ein: Er billige den Brief an Gromyko und meine Haltung. Damit war die Lüge aus der Welt. Ich habe Scheel dieses Telegramm nie vergessen.
    In Bonn gratulierten die Verbündeten zu unserem erfolgreichen Durchbruch. Die zehn Punkte waren allen zugegangen. Aber nichts war in trockenen Tüchern; solange sie nur auf Papier standen, waren sie für Moskau nicht bindend. Die Verhandlungen in Warschau, die Duckwitz führte, schleppten sich dahin. Sogar Allardt drängte jetzt: »Das Eisen schmieden, solange es heiß ist.« Scheel hatte schon die Flugtickets nach Moskau gebucht, da stellte Genscher als Verfassungsminister noch Prüfungsbedarf fest. Es wurmte Brandt, dass bei Verfassungsfragen die Richtlinienkompetenz nicht greift. Er muffelte: »Das muss nun Sir Walter mit seinem Parteifreund regeln.«
    Es war peinlich, dass Bonn den vorgeschlagenen und von Moskau angenommenen Termin absagen musste. Scheel hatte sich nicht durchgesetzt, und die Klarstellung des Bundeskanzlers in der Kabinettssitzung, der Termin für die angekündigte Reise des Außenministers nach Moskau habe seine

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