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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Psychologie seiner Menschen. Es fiel deshalb nicht schwer, die Grundlinien für Verhandlungen abzustimmen. Praktisch müssten wir, so der Gedanke, die Vier Mächte vorsichtig an die Hand nehmen und führen. Darauf riet Willy zur Zurückhaltung und Vorsicht. Das Gespräch gewann eine nie vorher und nie später erlebte Weite und Tiefe.
    Bei der Betrachtung unserer geteilten Welt, das eigene Land eingeschlossen, käme man schwerlich an der Erkenntnis vorbei, dass das ganze Elend von Deutschland ausgegangen sei. Marx und Engels hätten schließlich eine weltweite Wirkung entfaltet, ideologisch und politisch bis hin zu Kriegen, die in seltsamer politischer Gerechtigkeit wieder nach Deutschland zurückgekehrt seien. Es sei vielleicht naheliegend, dass aus dieser geteilten Mitte auch am ehesten nach Möglichkeiten gesucht würde, die Spaltung zu erleichtern und zu überwinden. Die Entspannungspolitik könne das Mittel werden, die gefährliche Konfrontation zwischen Ost und West aufzulösen. Das wäre dann gleichbedeutend mit der Linderung der von vielen so genannten »Krankheit des Kommunismus«. Fast könnte man das eine geschichtliche Verantwortung der Deutschen nennen. An diesem Punkt verlangte Brandt, darüber nie zu sprechen. »Man würde uns für Hochstapler halten.« Die Kombination von »deutsch« und »Führung« sei hochbrisant.
    Andererseits, fügte er beruhigend hinzu, wüssten wir noch nicht einmal, ob das mit der Berlin-Regelung klappen würde. Auch beim Blick auf einen weiten Horizont blieb Brandt mit beiden Beinen auf der Erde. Es werde wohl eine einmalige Situation bleiben, dass Deutsche in einer solchen Schlüsselposition seien. Er könne sich keine Wiederholung einer derart zentralen deutschen Bedeutung vorstellen. Was das »An-die-Hand-nehmen« betraf, warnte er: »Übernimm dich nicht«, und gab gleich darauf grünes Licht: »Dann mach mal.«
    Bereitschaft ohne Echo: Polen
    Gerade nach den guten Erfahrungen in Moskau ahnte Brandt: »Das wird ein schwierige Reise.« Polen, das erste Opfer Hitlers, geteilt, nach Westen verschoben, amputiert, der Verlierer unter den Siegern, sollte sich nicht erneut gedemütigt fühlen. Er hatte den Krupp-Chef Berthold Beitz gebeten, dem polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz einen Brief zu überbringen. Beitz, der während des Krieges polnische Juden gerettet hatte, war in Warschau hoch angesehen und sicher der einzige Briefträger, der diese Post mit seinem Privatflugzeug befördern konnte. Brandt hatte den Brief schon im Dezember 1969 geschrieben, lange bevor er wusste, wann er nach Moskau fahren würde, und hatte um Verständnis gebeten: Bitte nicht drängen, das sei nicht nötig. Wir müssten in Moskau beginnen und würden dann alle politischen Fragen gemeinsam besprechen.
    Brandts Neigung zu Polen hatte eine Vorgeschichte. Anfang 1968 hatte mich Hansjakob Stehle, damals Korrespondent der Zeit in Wien, eingeladen, einen polnischen Botschaftsrat zu treffen. Jerzy Raczkowski, den ich aus Berlin kannte, wünschte die Begegnung »ohne Auftrag seiner Regierung«. Brandt stellte mir frei, dabei das gesamte Konzept der Entspannungspolitik darzustellen. So wurde Polen das erste Land, das einen Überblick über unsere Pläne bekam. Zwei Tage nach meinem Bericht sprach Brandt, damals noch Außenminister, vor dem Rhein-Ruhr-Club von »einem neuen Ansatzpunkt für ein sachliches Gespräch«. Dieser Wink war für seinen polnischen Kollegen Adam Rapacki bestimmt, der den aufregenden Plan einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa vorgeschlagen hatte. Auf dem Nürnberger Parteitag im März 1968 stellte Brandt erstmals eine »Anerkennung bzw. Respektierung der Oder-Neiße-Linie bis zur friedensvertraglichen Regelung« in Aussicht. Diese gewissermaßen amtliche Bestätigung der Formel, die mein Wiener Gespräch mit Raczkowski ergeben hatte, blieb ohne Echo. Nachdem Warschau stumm blieb und Brandt innenpolitischen Ärger bekam, befand er: »Die wollen nicht oder können nicht oder dürfen nicht.«
    Erst ein Jahr später erklärte Parteichef Władysław Gomułka plötzlich, die Formel Brandts auf dem Nürnberger Parteitag sei ein Schritt hin zu einem Gespräch. Warum die späte Reaktion? Stehle löste das Rätsel. Anfang 1969 hatte er am Rande eines Parteitags der italienischen Kommunisten in Bologna Zenon Kliszko, den engsten Mitarbeiter Gomułkas, getroffen. Der beklagte sich darüber, dass Gomułkas Echo auf Brandts Rede ohne Reaktion aus Bonn geblieben sei. Der Bericht

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