»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Zustimmung gefunden, nützte auch nichts. Genscher wollte einen Punkt gewinnen, und ich sagte Brandt, das könne sogar möglich sein. Mitte Juni wurden die zehn Punkte dann im Wortlaut in der Illustrierten Quick veröffentlicht. Die Quelle der Indiskretion ist bis heute unbekannt. Das änderte die Lage. Nach der Ankunft Scheels in Moskau Ende Juli erklärte Gromyko: Weil die zehn Punkte trotz vereinbarter Vertraulichkeit veröffentlicht wurden, sei der Text für die Sowjetunion nicht mehr verhandelbar. Für zwei Wochen liefen sich die Verhandlungen der beiden Außenminister fest.
Plötzlich meldete sich Leo. Scheel reagierte sofort: »Nun wird alles gut.« Nach zwei Besprechungen mit Falin und Slawa brachten wir die Kuh vom Eis. Durch eine sprachliche Verknüpfung zwischen den Artikeln 2 und 3 wurde ein Zusammenhang zwischen »Grenzrespektierung« und »Gewaltverzicht« hergestellt. Ich unterrichtete Brandt in einem persönlichen Brief auch von dem Ergebnis, »dass das Politbüro dies in der letzten Nacht akzeptiert hat«. Ich weiß nicht mehr, ob Gromyko oder Scheel auf einem Spaziergang dem anderen die Formel vorgeschlagen hat. Sie fand jedenfalls die Gnade beider Außenminister. Nach einigen Komplikationen durch die drei Westmächte, die versuchten, durch uns etwas zu erreichen, was sie selbst nicht erreicht hatten, entschied Scheel souverän, dass wir uns nicht aufhalten lassen, und vereinbarte die Paraphierung. Am Vorabend wurden Sanne und ich in die Zwei-Zimmer-Wohnung Leos eingeladen und von seiner Frau Lydia mit Blinis bewirtet. Er sagte: »Ich weiß ja nicht, ob Sie die Wiedervereinigung je erreichen werden, aber wenn, dann machen Sie morgen den ersten Schritt dazu.«
*
Der erste Besuch des Bundeskanzlers in Washington war ein rauschender Erfolg. Im Hubschrauber nach Camp David, Vortrag des CIA-Chefs über die Fähigkeit, aus dem Weltraum zu fotografieren. Die Überschrift der Prawda in der Schlange vor dem Lenin-Mausoleum war lesbar. Wir wurden feudal im Blair House, dem offiziellen Gästehaus des Präsidenten, untergebracht. Endlich allein, fing Willy an, über Nixons Charakter zu lästern und mir zu sagen, wie unsympathisch der Mann sei. Ich warnte ihn: »Hier wird bestimmt abgehört.« Er rief mich zur Ordnung: »Wir sind hier nicht in Moskau.« Am nächsten Abend beim großen Empfang im Weißen Haus fühlten wir uns unter Freunden, nicht weil Nixon mich Brandts Kissinger nannte, sondern weil es keine Andeutung gab, unsere Ostpolitik zu kritisieren oder zu bremsen. Der Erfolg hieß herzliches Einvernehmen.
Viel später erfuhr ich von Kissinger: Natürlich waren wir abgehört worden. Nixon habe reagiert, Brandt sei ihm unsympathisch, außerdem ein Trinker. Schlimmer noch: Henry hatte zugestimmt! Er bat später um mein Verständnis und gestand, es sei sehr viel nötig gewesen, um seinen Einfluss auf den komplizierten Nixon zu erhalten. Ich musste nichts Vergleichbares erleben.
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Zur Ankunft des Bundeskanzlers kamen Kossygin und Gromyko zum Flughafen. Die Nationalhymne in Moskau zu hören, ließ wohlig erschauern. Die Fahrt zum Kreml machte Eindruck. Der Verkehr wurde gestoppt. Die Ampeln standen auf grün, so dass die Fahrt nicht unterbrochen werden musste. Der Freund nahm meine Hand und drückte sie lange ganz fest. Während seine Gedanken nach innen gerichtet waren, ging der Blick scheinbar leblos nach vorn. Das Protokoll des Kreml ließ die Türen auf beiden Seiten des Saales im selben Augenblick aufgehen, damit Brandt und Breschnew gleichzeitig eintreten und sich begrüßen konnten. Gromyko stellte mich Breschnew vor, der zusah, wie die beiden Regierungschefs und ihre Außenminister den Vertrag unterzeichneten.
Das persönliche Gespräch zwischen Generalsekretär und Kanzler dauerte vier Stunden. Das Ergebnis der in Wahrheit vier langen Monologe: Beide gewannen das Gefühl, mehr Zeit zu brauchen, und blieben neugierig aufeinander. Brandt fand das Verständnis des anderen Parteiführers, dass er seinen Berliner Landesverband nicht zu einer selbständigen Partei machen konnte. Das war das Ende der sowjetischen Politik einer »Selbständigen politischen Einheit Westberlin«. Schließlich vereinbarten beide ein jährliches Treffen und beschlossen einen vertraulichen »Kanal« zwischen ihnen, vergleichbar dem Back channel nach Washington. Ich erhielt Telefonnummern und konnte Leo nach Bonn bestellen. Scheel und Genscher ließen ihm ohne Rückfragen ein Jahresvisum ausstellen. Slawa durfte nur bis
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