»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Rechte einer Volksvertretung kämpft. Kurz: Immer mehr Menschen spüren, dass aus der großen Idee Europa ein unüberschaubarer Kompetenzkampf von Verwaltungen geworden ist. Wenn sie sich abwenden, droht die Seele Europas verlorenzugehen.
Demokratie ist eine europäische Erfindung. Die politische Gewalt wird durch freie Wahlen von dem Souverän, dem Volk, an die Regierung delegiert, aber nicht an den Markt. Die Politik soll die Interessen der Allgemeinheit vertreten. Das kann sie nur, wenn sie der Wirtschaft durch Gesetze Rahmen und Regeln setzt, in denen sie ihren auf Gewinn angelegten Interessen folgen kann. Anders gesagt: Die Demokratie muss über dem Markt stehen.
In der rauen Wirklichkeit entdeckte die Finanzwirtschaft vor der Jahrtausendwende die Möglichkeit, das Geld von der Produktion zu lösen. Die weltweite Gier nach dem virtuellen Geld schuf eine Blase. Als sie platzte, gab es zur Rettung der Banken nur die Staaten. Ihre Rettungspakete erreichten bis dahin unvorstellbare Summen, mit denen die Staaten sich und ihre Bürger verschuldeten. Das kann nicht endlos weitergehen. Wer oder was soll am Ende die Staaten retten?
Dem Motto Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen« stellte Angela Merkel ihr »Mehr Freiheit wagen« entgegen. Diese Parole führte zu ihrer »marktkonformen Politik«. Die Märkte trieben die Staaten vor sich her oder degradierten sie durch Rating-Agenturen. Die Aufgabe heißt: den »politikkonformen Markt« zu schaffen. Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land in der Mitte Europas hat dafür eine besondere Verantwortung. Es sollte unsere europäischen Nachbarn für dieses Ziel gewinnen. Dort gibt es ein wachsendes Verständnis dafür, dass unser Kontinent seine Substanz verliert, wenn er die Demokratie verliert. Mit einer solchen Orientierung hätte Europa noch immer genügend Gewicht in unserer multipolaren Welt. Denn kein Staat muss Demokratie nach westlichem Vorbild leben, um die Politik dem Markt überzuordnen. Ein globaler Konsens für diese Orientierung ist wahrscheinlich.
George Soros, geborener Ungar und amerikanischer Bürger, warnte nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems, dass auch der Kapitalismus zusammenbrechen werde, wenn er sich nicht als reformfähig erweise. Mit seinen Einsichten in die Mechanismen der Finanzwirtschaft verdiente er nochmals mehrere Milliarden Dollar: Es lebe der Kapitalismus, solange er lebt! Es sieht so aus, als hätte Soros recht, als hätten wir es tatsächlich mit einer Krise des Systems zu tun und nicht etwa nur mit einem Fehler im System. Es gibt demokratische Ansätze im Westen, den Kapitalismus zu reformieren. Unabhängig davon wird der größere Teil der Welt »seinen« Kapitalismus weiterentwickeln.
Eine der größten Herausforderungen unseres Jahrhunderts bleibt das Internet. Es hat schon begonnen, das Leben in unserer Welt stärker zu verändern als die Erfindung der Buchdruckerkunst. Es hat lange gebraucht, ehe die Mehrheit der Menschen lesen und schreiben lernte. Das Internet erleichtert das Leben, schafft aber auch neue kriminelle Gelegenheiten und, wie jeder technische Durchbruch in der Geschichte, neue militärische Anwendungsmöglichkeiten. Eine davon heißt Cyberwar, ist schon einige Male erprobt worden und wird streng geheim gehalten. Man weiß ja, welches Land welche neuen Fähigkeiten entwickelt. Alle Versuche, das Netz zu kontrollieren, sind bisher erfolglos geblieben, sei es in Amerika, in der NATO, in Deutschland, Russland oder China.
Alle Menschen, die durch die grenzenlose digitale Technologie verbunden sind, verfügen weltweit und gleichzeitig über denselben Informationsstand und können aktiv kommunizieren. Der arabische Frühling war ein Ergebnis dieser Vernetzung, ebenso – in unterschiedlicher nationaler Ausprägung – Aufbegehren und Unruhen sich mündig fühlender Bürger überall in der Welt, von Amerika bis China. Aber auch die Manipulierbarkeit der Nutzer und der Öffentlichkeit durch die Netzbetreiber ist gewachsen.
Die neue Technologie bringt neue Waffensysteme. Sie sind treffsicher mit globaler Reichweite und der strategischen Wirkung von Atomwaffen. Ein breites Arsenal von Drohnen »erlaubt« es, mittels grenzenloser Kommunikationstechnologie grenzenlos zu töten. Man kann sicher sein, dass diese Technik kein amerikanisches Monopol bleiben wird.
Die neuen Herausforderungen unseres Jahrhunderts sind nicht nur technologischer und militärischer Art, sie betreffen auch die Umwelt, worauf schon die
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