»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
1961 und 1965 als Kandidaten für das Amt des Kanzlers nominiert hatten, da hat keiner der Übrigen öffentlich zu verstehen gegeben, eigentlich sei er doch selbst der bessere Mann.« Dieses späte Geständnis Schmidts konnte der drei Jahre zuvor verstorbene Brandt nicht mehr lesen. Es hätte ihn amüsiert, denn es bestätigte nur seine Annahme. Die beiden sagten sich nie in letzter Offenheit, was sie voneinander hielten. Da mischten sich Respekt und Anerkennung mit subjektiven, ziemlich festgefahrenen Urteilen über die Schwächen des anderen. »Niemand kann aus seiner Haut«, hatte Brandt an Schmidt geschrieben. Das hätte Schmidt auch an Brandt schreiben können.
»Je älter ich werde, umso
linker werde ich.«
Im Büro des Parteivorsitzenden in Bonn hing ein Porträt Rosa Luxemburgs. Das Hauptquartier wurde von den Bonner Anfängen her immer noch »Baracke« genannt, obwohl es inzwischen repräsentativ und solide für die noch unabsehbar lange Periode der Teilung gebaut war. Das Bild der Reformkommunistin hing, für Besucher kaum zu übersehen, im Arbeitszimmer eines jener »schlappen« Sozialdemokraten, die sich wählen und wieder abwählen lassen. Auf diese Auffälligkeit angesprochen, erklärte Willy, er bewundere diese Frau für ihren Ausspruch: »Kein Sozialismus ohne Demokratie, aber auch keine Demokratie ohne Sozialismus.«
Als François Mitterrand 1981 zum Präsidenten Frankreichs gewählt worden war, zeigte sich Willy begeistert und begrüßte die Absicht, die Kommunisten mit in die Regierung zu nehmen. Ich war als Kind von Krieg und Kaltem Krieg da viel bedenklicher. Willy hatte noch in der Weimarer Zeit politisch zu denken begonnen und Erlebnisse verarbeitet, die mir fehlten. »Warte mal ab«, belehrte er mich, »das kann auch zur Marginalisierung der Kommunisten führen.« Einige Jahre später erkannte ich, dass Brandt und Mitterrand richtig kalkuliert und gehandelt hatten.
Wenn Willy aus seiner Emigrationszeit erzählte, erinnerte er gern an seine Begegnung mit Heinrich Mann in Paris. Das war die Zeit, als die Kommunisten gleichermaßen gegen die Sozialdemokraten wie gegen die Nazis kämpften. Die Sozialisten in Frankreich hingegen praktizierten die Zusammenarbeit linker Kräfte in einer Volksfront, mit der Brandt sympathisierte. Damals hatte er auch den Kommunisten Hermann Axen kennengelernt, später Mitglied des Politbüros der SED, mit dem ich Mitte der achtziger Jahre auf Parteiebene eine atom- und chemiewaffenfreie Zone in Mitteleuropa vereinbarte. Bei einem seiner Besuche in Bonn äußerte Axen den Wunsch, dem inzwischen großen Willy Brandt die Hand zu drücken. Willy stimmte gern zu und duzte, mehr als fünfzig Jahre nach ihrer Pariser Begegnung, den schüchternen Hermann, der das vor Aufregung zuerst gar nicht wahrnahm, Brandt siezte und sich später Vorwürfe machte, Willy könnte das missverstanden haben.
Axen hatte einen Urlaub Honeckers abgewartet, um die Genehmigung von Egon Krenz zu erhalten, mich und meine Frau auf den Darß einzuladen. Das Politbüro hatte ihm dort ein ansehnliches, aber nicht üppiges Haus zum privaten Gebrauch zugewiesen. Auf der Rückfahrt nach Berlin fühlte er sich sicher, nicht abgehört zu werden, sagte das auch und erinnerte sich bewegt an die Begegnung mit »Willy« in Bonn. Nur drei Jahre jünger als Brandt, bezeichnete er sich als Kind der Arbeiterbewegung. Seit der Zeit in Paris habe ihn der Gedanke nie verlassen, dass die Spaltung der linken Bewegung schrecklichen Schaden verursacht habe und für die Katastrophen, die dann folgten, zumindest eine Mitschuld trage. Es wäre des Schweißes der Edlen wert, diese Spaltung zu überwinden. Als Patriot wolle er dieses Ziel für unser Land und darüber hinaus im Auge behalten. Es sei kein Widerspruch, wenn er als Parteisoldat über solche Vorstellungen nicht überall offen sprechen könne. So habe er seine Mitarbeiter bei den Gesprächen über ABC-Waffen gemahnt, nicht zu vergessen, dass diese Westdeutschen schließlich Klassenfeinde seien. Ich zeigte Verständnis und konnte ihm bestätigen, dass ich mich vergleichbar verhalten hatte, als ich meine Mitarbeiter vor falscher Kameraderie gewarnt habe.
Mitte der achtziger Jahre wiesen SPD und SED in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der Erhaltung des Friedens die Priorität vor allen weiter bestehenden ideologischen Unterschieden zu. In einer »Kultur des Streits« sollte die »offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme« geführt werden, was in der
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