»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
Jahre später wird überlegt, wann die volle Rechtsgleichheit erreicht werden soll.
Was bleibt
Brandts Themen sind aktuell geblieben: 2013 steht die Welt vor der Aufgabe, für den riesigen Kontinent Asien Stabilität zu erreichen, derjenigen vergleichbar, die die beiden Supermächte am Ende des Ost-West-Konflikts für Europa geschaffen haben. Brandts zentraler Satz gilt noch immer: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Als er ihn formulierte, konnte die Welt noch nicht sicher sein, ob die Staatsmänner in Washington und Moskau weise, verantwortungsvoll und vernunftbegabt genug sein würden, sich nicht durch Emotionen über die Grenzen des bloß kalten Krieges drängen zu lassen.
Die Aufgabe in Asien ist ungleich schwieriger geworden. Zwar sind die beiden Großen die einzigen Staaten geblieben, die über die Zweitschlagfähigkeit ihrer interkontinentalen Atomraketen verfügen, doch können sie nicht mehr befehlen und allein entscheiden, was ihre Schutzbefohlenen, Freunde oder Verbündeten zu tun oder zu unterlassen haben. Auch wenn Chinas Atomwaffe noch weit unterhalb der Zweitschlagfähigkeit bleibt, ist die neue Großmacht doch schon stark genug, Weisungen aus Washington oder Moskau nicht folgen zu müssen. Das gilt auch für Indien und Pakistan sowie für die nicht nuklear gerüsteten Mächte Indonesien und Japan und sogar für Australien und Neuseeland.
Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass Barack Obamas Umstellung der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber Moskau von der Konfrontation zur Kooperation jetzt eine stärker globale Dimension erhält. Was damals, zu Beginn der siebziger Jahre, mit Erfolg praktiziert wurde, werden andere jetzt neu lernen: Nicht Demokratie und Menschenrechte, nicht einmal die Freiheit, sondern der Frieden muss global der oberste Wert bleiben. Auch für Partner, die nicht die politischen Strukturen westlicher Demokratien teilen, bleibt der Dialog das Mittel, um mit Vernunft Konflikte zu regeln und Interessen auszugleichen. Keines der großen globalen oder regionalen Probleme ist militärisch wirklich lösbar. Der Verzicht auf Gewaltanwendung ist aktuell geblieben, nicht nur als Stärke des Schwächeren, sondern auch als Basis für die Großen, ihrer globalen Verantwortung gerecht zu werden.
Die Idee lag nahe. Als Freund fragte ich Willys ältesten Sohn Peter, was er von einem Gesprächskreis hielte, der sich mit der Frage beschäftigt, was von den politischen Vorstellungen seines Vaters bleibt. Außerdem fragte ich Günter Grass, den kritischen Freund, der sich gerade wieder einmal in einer schwierigen Phase seines Verhältnisses zur SPD befand. Er erklärte sich sofort bereit, mitzumachen. So fand sich eine Gruppe zusammen, deren Mitglieder aus beiden Teilen des vereinten Landes kamen, intellektuell unabhängig, mit oder ohne parteipolitische Bindung, aber alle der Haltung Willy Brandts verbunden, links von der Mitte zu versuchen, die Kluft zwischen Macht und Geist etwas schmaler zu machen. Zu den Gründern des Willy-Brandt-Kreises zählten Günter Gaus und Christa Wolf, beide inzwischen verstorben, und unter anderen Christine Hohmann-Dennhardt, Jens Reich, Klaus Staeck und Friedrich Schorlemmer, der seit geraumer Zeit unsere Zusammenkünfte leitet. Die Themen werden nicht knapp.
Willy schenkte mir zu meinem Geburtstag 1971 die Erinnerungen von Heinrich Brüning, in die er die Widmung schrieb: »So nicht!« Damals, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1930, hatte überzogenes »Nur-Sparen« die Gegner der Republik gestärkt, die Demokratie geschwächt und zu ihrem Ende beigetragen. Wenn zu viele Menschen in Not geraten und die Hoffnung verlieren, gerät die Demokratie in Gefahr. Das ist in Griechenland zu beobachten, verstärkt durch außenpolitischen Druck, der die Würde des Landes verletzt.
Das »So nicht!« heißt auf die Gegenwart übertragen: Die Gefahr für die Demokratie existiert, nicht nur auf europäischer Ebene. Die Menschen verstehen, dass Wirtschafts-, Währungs- und Handelsfragen von den immer noch unentbehrlichen Nationalstaaten auf Europa übertragen werden. Aber der normale Bürger ist kein Experte, der den Zahlen- und Buchstabensalat der Finanzkonstruktionen, der Staatsfinanzierung oder der »Bankenrettung« entziffern kann. Er liest, sofern er sich dieser Mühe noch unterzieht, von den Auseinandersetzungen zwischen dem mächtigen EU-Rat, der EU-Kommission und einem europäischen Parlament, das um die vollen
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