»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)
absolute Gehör und die Fortschritte am Klavier, während es bei der Violine nur zur zweiten Geige im Schulorchester reichte.
Es kam ganz anders: 1974 versuchte ich, Lew Kopelew eine Reise in die Bundesrepublik zu ermöglichen. Er wollte die Geschichte des deutschen Arztes Friedrich Joseph Haass schreiben, der aus Münstereifel stammte und nach dem Dekabristenaufstand von 1825 als »Engel der Verbannten« bekannt geworden war. Für Münstereifel war der CDU-Abgeordnete Alois Mertes zuständig, ein aufrechter Gegner der Entspannungspolitik, dem die schwere Niederlage der Union beim Misstrauensvotum zwei Jahre zuvor unvergesslich war. Ich bat ihn um Unterstützung für Kopelew und erwähnte in unserem Gespräch etwas flapsig: »Ich wollte eigentlich Musik studieren, aber der Führer wollte es nicht.« Er bemerkte trocken: »Schade, noch ein Fehler Hitlers.«
Musik blieb mir unentbehrlich. Ich war deprimiert, als ich nach zwei Jahren Wehrmacht feststellen musste, dass ich am Klavier nicht dort weitermachen konnte, wo ich aufgehört hatte. Schon darum bewunderte ich später Helmut Schmidts konzertante Fähigkeiten. Brandt blieb musikalisch für mich ein Banause. Selbst wenn auf Reisen die Gastgeber glaubten, sie könnten ihm mit Volksmusik eine Freude machen, hörte er zwar höflich, aber ganz uninteressiert zu. Nicht einmal zur obligatorischen Weiberfastnacht, zu der die »Tollitäten« sogar in die Bonner Parteizentrale kamen und das Funkemariechen tanzte, ließ er sich blicken. Nur einmal habe ich ihn in der Berliner Philharmonie mit ihrer hinreißenden Akustik gesehen – bei der Eröffnung. Ein Drang zu Oper, Theater oder Ausstellungen war nicht erkennbar. Bei Veranstaltungen, zu denen er gehen musste, hatte er gewöhnlich auch zu sprechen. Gemessen an der seltenen Chance, ungestört zu Hause lesen zu können, war es verständlicherweise wenig verlockend, nur zuhören zu sollen.
Mit Schmidt konnte ich Schach spielen, glücklicherweise auf einem vergleichbaren Niveau. Nicht vorstellbar, mit ihm über etwas gewagte Witze zu lachen. Willy und ich erzählten uns die jeweils neuesten. Wenn Willy sie in kleiner Runde erzählte, amüsierte er sich selbst am meisten darüber.
Brandt genoss Gespräche mit Schriftstellern, etwa mit denen der Gruppe 47. Er sog daraus Argumente, Gedanken, Warnungen und Anregungen, die er aus seinem politischen Alltag nicht gewinnen konnte, und verschmolz sie mit seiner Welt und seinen Orientierungen, in denen er sich sicher fühlte. Nie wäre ihm eine Formulierung in den Sinn gekommen, die Schmidt mehrfach benutzte: Er sei nur eine Fußnote der Geschichte. Selbst wenn das eine Tiefstapelei in der Erwartung von Widerspruch gewesen sein mochte, von dieser Art des Selbstzweifels hatte sich Brandt längst emanzipiert. Schmidt wiederum nahm beneidenswert aktiv am kulturellen Leben und an philosophischen Disputen teil und gewann eine geistige Breite, die Brandt nicht suchte.
Trotz solcher Unterschiede verband beide Männer, dass sie sich ihren Aufstieg selbst gebahnt hatten. Weder der Rückkehrer aus der Emigration noch der ehemalige Wehrmachtsoffizier erfuhren eine Protektion, die sie zu Dank verpflichtet hätte. Beide Alphatiere gingen ihren Weg. Ihre unterschiedlichen Charaktere, Interessen und Talente hätten zu irreparablen Konflikten geführt ohne die Disziplin, die beide für die gemeinsame Sache von Partei und Staat verband.
Die mir zugewiesene Bezeichnung »Architekt der Entspannungspolitik« empfand ich als angemessen: Der Bauherr hieß Brandt. Er gab die Weisungen und wusste, wann und wo ich ihn zu fragen hatte. Ohne den Bauherrn wäre ich nie Architekt geworden. Zu Recht werden die geschichtlichen Bauwerke Deutschland und Europa mit dem Namen Brandt verbunden bleiben, während der ihres Architekten verblassen wird, nur noch Kennern oder Feinschmeckern gewärtig. Mit unseren Schriften wird es ähnlich sein. Ich habe viel unter dem Pseudonym Brandt veröffentlicht und nie damit geprahlt. Was er änderte, redigierte, annahm, mit oder ohne Rücksprache sich zu eigen machte, das war auch sein Eigentum. Wie das zwischen uns funktionierte, war einfach toll.
Ich hatte das Privileg genossen, Griechisch zu lernen, und weiß es bis heute zu schätzen. Weder Brandt noch Schmidt mussten erst Griechisch lernen, um die antike Weisheit »Erkenne dich selbst« zu praktizieren. Die notwendige Disziplin für die gemeinsame Sache machte ihnen Selbsterkenntnis zur zweiten Natur.
»Als wir Willy Brandt
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