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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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hoffte, dass sie doch wieder zusammenfinden werde.«
    Aufschlussreich, dass der Ex-Kommunist Wehner in diesem hellsichtigen Rückblick keinen Platz fand. Wehner war sechs Jahre älter als Bauer, der wiederum auf den Tag genau ein Jahr älter als Brandt war. Jedenfalls bewies Brandt 1983, als das Interview stattfand, eine erstaunlich gegenwärtige Erinnerung an die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit. Und eine bemerkenswerte Kontinuität seines Denkens, denn als Führungsmitglied der SPD-Landesgruppe Schweden hatte er 1946 seinen schwedischen Freunden übermittelt: »Es ist jedenfalls eine Tatsache, dass die große Chance zur Bildung einer einheitlichen Arbeiterbewegung in Deutschland unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes gegeben war und dass diese Chance nicht ausgenutzt wurde.« So schrieb er, als in Berlin die Verschmelzung von KPD und SPD administrativ vorbereitet wurde. In dem Interview von 1983 formulierte er sein Bedauern, dass die Zahl derer schmilzt, die noch Menschen aus der alten »Bebel-Partei« kennengelernt hatten. Wer ihm damals gesagt hätte, dass nur wenige Jahre später der Papst der Kommunisten in Moskau ihn in seinem Ziel bestärken würde, die Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden, den hätte er für einen Spinner gehalten.
    *
    1985 zog Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU im Kreml ein. Die drei Begegnungen zwischen ihm und Brandt in den Jahren 1985, 1988 und 1989 bildeten einen aufregenden und unvollendeten Abschnitt der Beziehungen zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus. Die erste verlief noch harmlos mit der Erörterung der Berichte der Brandt- und der Palme-Kommission. Beide Papiere beurteilten die neu entstandene globale soziale Frage ähnlich, beide waren von Sozialdemokraten verfasst worden. Deshalb agierte Brandt vorsichtig. Er übersah nicht, dass Gorbatschow seiner Partei neue Anziehungskraft verschaffen und nach den Verbrechen Stalins die Ideen Lenins zu neuem Leben erwecken wollte. Diese Perspektive erschien Brandt alles andere als anziehend.
    Bald darauf lief ich aufgeregt zu Willy und zitierte die jüngste Erklärung von Gorbatschow: »Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen.« Damit sei der geschichtliche Kampf zwischen Evolution und Diktatur des Proletariats entschieden. Brandt mahnte, darüber nicht öffentlich zu reden: »Wir wollen es ihm nicht noch schwerer machen, als er es ohnehin hat.«
    In der zweiten Begegnung betonte Gorbatschow, er habe keine Bedenken hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten, auch wenn unterschiedliche Positionen vertreten würden und jede Partei ihren Weg selbst bestimmen müsse. Er schlug vor, dass ein paar Leute aus beiden Parteien versuchen sollten, die Geschichte des Bruchs der Arbeiterbewegung aufzuarbeiten. Das war faszinierend und höchst gefährlich. Auf der einen Seite spürte ich an der Art, wie Willy seine Antwort abwog, dass seine kaum eingestandenen Träume virulent wurden. Auf der anderen Seite würden wir innenpolitisch in der Luft zerfetzt werden. Ich sah schon vor mir, wie das alte Hetzplakat Adenauers neu gedruckt werden würde: »Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau.« Wir verstanden uns wie immer wortlos. Willy sagte: »Der Egon rutscht ganz nervös auf seinem Stuhl herum, ich glaube, er will etwas sagen.« Mein Vorschlag, zunächst mit der Abstimmung über konkrete Rüstungsbegrenzungen und die Ausgestaltung des europäischen Hauses zu beginnen, fand die Gnade beider.
    Dennoch wollte Gorbatschow eine marxistisch-leninistische Elite für die Diskussion mit dem »revisionistischen« Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale aufbieten. Brandt bekannte, »Das Kapital« nicht vollständig gelesen zu haben. Marx hätte weder den Elektromotor noch die Kernspaltung voraussehen können. Er sei ein großer Denker gewesen und bleibe es. Der Erfolg der sozialdemokratischen Parteien bestehe aber gerade darin, kein geschlossenes System zu haben, sondern das jeweils Nötige möglich zu machen. Er beharrte auf dem Prinzip der Evolution. Ein Echo kam nicht. Die Mitglieder der ideologischen Elite hatten sich darauf nicht vorbereitet.
    Für die dritte Begegnung hatte Brandt die Überschriften des Entwurfs für ein neues SPD-Grundsatzprogramm übersetzen lassen. Gorbatschow las sie und reagierte begeistert: »Das sind meine Themen.« Brandt enthüllte deutlicher als jemals zuvor seine Hoffnung oder Vision: Statt des Geredes über das Ende des Sozialismus sollte einmal

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