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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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gesagt werden, dass er in einem großen Teil der Erde gerade erst neu anfängt. Gorbatschow folgerte zustimmend: »Der Prozess des Zusammenführens sollte vorangehen. Die Spaltung von 1914 ist überwindbar.«
    Auf dem Rückflug von Moskau war Brandt nachdenklich. Er war in Michail Sergejewitsch Gorbatschow einem Menschen begegnet, der ihm verwandt war in dem Mut, »neues Denken« zu wagen, der aber ausgestattet war mit einer Macht, über die er selbst nie verfügen würde. Der Sozialist in ihm fühlte sich gestärkt in der Überzeugung: »Die Idee kann nicht sterben, solange Kinder an Hunger sterben.«
    Nicht nur die Ergebnisse seiner Kommission, sondern auch die Diskussion darüber, zumal von Seiten konservativer Regierungen und der Wirtschaft, die Brandt als Verhöhnung empfand, hatten seinen Standpunkt nach links rücken lassen. Die Idee einer »gemeinsamen Sicherheit« und der Hinweis auf die schreiende Ungerechtigkeit, irrsinnige Summen für die Rüstung, aber kaum etwas für die Bekämpfung der Armut auszugeben, waren ihm als »Weltfremdheit« vorgeworfen worden. Er war verletzt, aber nicht getroffen. Im Zusammenwirken mit dem charismatischen Gorbatschow schöpfte er neue Hoffnung: »Das kann weit führen.« Aus dem organisierten Wahnsinn könnte organisierte Vernunft werden, sogar im eigenen Land. Er fragte: »Was werden deine Brüder in Ostberlin dazu sagen?« Meine Antwort nahm er hin: »Das wird für sie unbequem, aber der Weg ist durch das gemeinsame Papier von SPD und SED abgesteckt.« Brandts Erwartung gewann geschichtliche Dimension: »Wenn die Kommunisten nach rechts rücken, dann treffen sie auf Sozialdemokraten. Das öffnet für die Sozialdemokratie eine große Chance in Europa.« Nicht zum ersten Mal hörte ich ihn sagen: »Je älter ich werde, umso linker werde ich.«
    *
    Am Tag nach dem Mauerfall, dem 10. November 1989, flogen Willy und ich zu der großen Kundgebung vor »unserem« Schöneberger Rathaus nach Berlin. Er pinselte auf eine seiner Rednerkarten Stichworte, darunter: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.« Mehr als zwanzig Jahre später las ich in einem Artikel des schleswig-holsteinischen SPD-Politikers Gert Börnsen, dass Brandt 1961, kurz nach dem Mauerbau, vor dem Berliner Abgeordnetenhaus davon gesprochen habe, »dass zusammenwachsen werde, was zusammengehört«. Das ist ein Beispiel für die von mir immer wieder beobachtete Fähigkeit Brandts, Erinnerungen, die er in seinem Gedächtnis gespeichert hatte, abrufen zu können, wenn er sie brauchte. Ein anderes, bereits erwähntes Beispiel war, dass er bei der Vorbereitung seiner Parteitagsrede 1960 in Hannover meine Bemerkung über eine deutsche Atombewaffnung aus dem Jahre 1957, über die wir nie gesprochen hatten, präsent hatte und mir vorhielt. Und noch ein drittes Beispiel: Die Parole in seiner ersten Regierungserklärung 1969: »Mehr Demokratie wagen«, machte Furore und löste eine Debatte darüber aus, wer sich rühmen könne, zur Demokratie in Deutschland einen Beitrag geleistet zu haben. Nach dem schrecklichen Verbrechen Anders Breiviks auf der norwegischen Insel Utøya reagierte der norwegische Ministerpräsident: »Wir müssen mehr Demokratie wagen.« Danach gab es für mich keinen Zweifel mehr, wo die Quelle dieses fundamentalen Ausspruchs lag.
    Nach der am 3. Oktober 1990 vollzogenen Einheit proklamierte Bundeskanzler Helmut Kohl als nächstes großes Ziel, die innere Einheit zu erreichen. Dabei wurde er von allen großen Parteien unterstützt. Vor der Enquête-Kommission des Bundestages erklärte er: »Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich gewusst, was ich mit den Akten der Stasi gemacht hätte.« Er wurde leider nicht gefragt, aber er war Brandts Einschätzung sehr nahe: In Spanien hätte es einen Bürgerkrieg gegeben, wenn dort die deutsche Methode Vorbild gewesen wäre. Und: »Die Ostdeutschen dürfen nicht nachträglich mit anderen Maßstäben gemessen werden als die Hinterbliebenen des Dritten Reichs.« Helmut Schmidt formulierte den gleichen Gedanken: »Es ist schädlich, dass nach 1990 mit den Kommunisten schlimmer umgegangen wurde als 1945 mit den Nazis.« Auch Genscher und Lafontaine gehörten zu dieser ganz großen Koalition. Sie konnte sich nicht gegen den Willen der Bürgerrechtler aus Ostdeutschland durchsetzen, durch den in Westdeutschland der Eindruck entstand, die Stasi sei gleichbedeutend mit der DDR gewesen. So wurden aus den Brüdern und Schwestern Ossis und Wessis, und mehr als zwanzig

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