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»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

»Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition)

Titel: »Das musst du erzählen«: Erinnerungen an Willy Brandt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Bahr
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Führungsetage der SED erheblich mehr Widerstand auslöste als in der SPD.
    *
    In seiner Zeit als Außenminister hatte Willy mich gebeten, mit seinem Freund Leo Bauer, der enge Kontakte nach Italien pflegte, und Sergio Segre zusammenzutreffen, dem zuständigen ZK-Sekretär der italienischen kommunistischen Partei, um diesem unsere Außen- und Sicherheitspolitik zu erläutern. Die Absicht war: Moskau sollte auf diesem Wege gewissermaßen das Original unserer Überlegungen erhalten und nicht auf verkürzte oder sogar falsche Informationen von Ulbricht angewiesen sein. Das ausführliche Gespräch mit Segre fand am Vorabend des Tages statt, an dem ich Reinhard Gehlen und den Bundesnachrichtendienst besuchen sollte. Gehlen erläuterte mir Struktur und Arbeitsweise des BND, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass er Segre, Bauer und mich in einem Münchner Hotel abgehört und darüber den Bundeskanzler informiert hatte. Kiesinger akzeptierte meine mündliche Erläuterung.
    Ich lernte Leo Bauer als linken Sozialisten kennen. Er war der einzige Mensch, der sich als Freund sowohl von Willy Brandt als auch von Herbert Wehner bezeichnen konnte. Damals hatte ich noch keine Ahnung von seinem abenteuerlichen Lebensweg. »Ich war immer Sozialist, nur habe ich an eine falsche Macht geglaubt« – unter diesem Motto stand 1932 der Eintritt des enttäuschten jungen Sozialdemokraten in die KPD. Aus der »Schutzhaft« der Nazis entlassen, floh er 1933 über Prag nach Paris, saß dort bis 1939 in der Führung der Exil-KPD, floh 1940 aus französischer Internierung in die Schweiz, wurde dort 1942 erneut verhaftet und interniert, 1945 nach Deutschland entlassen, in Hessen Fraktionsvorsitzender der KPD, in Ostberlin Chefredakteur des Deutschlandsenders, 1950 verhaftet und von einem sowjetischen (!) Militärtribunal wegen Spionage zum Tod verurteilt, nach Stalins Tod 1953 zu fünfundzwanzig Jahren Haft in Sibirien verurteilt und 1955 als einer der 10 000 Kriegsgefangenen, die Adenauer während seines Moskaubesuchs freibekommen hatte, durch Glück in die Bundesrepublik und nicht in die DDR entlassen. Er trat der SPD bei und wurde, nachdem ich Nannen abgesagt hatte, mit der Aufgabe betraut, aus der Illustrierten Stern eine politische Zeitschrift zu entwickeln. Schließlich wurde er Chefredakteur der Neuen Gesellschaft und auch ohne Amt und Titel Repräsentant und Motor der Beziehungen der SPD zur KPI. Genau zwei Monate vor der historischen »Willy-Wahl« starb er 1972 an einem besonders grausamen Krebs.
    Dieser linke Sozialist war nicht weniger infam den gleichen Verdächtigungen wie Brandt und Wehner ausgesetzt gewesen. Ich fühlte mich ihm freundschaftlich verbunden und schätzte ihn als einen sensiblen, intelligenten und sympathischen Menschen, dessen Weg ihm ein Selbstbewusstsein verschafft hatte, das ihm einen eigenen Standpunkt gegenüber Brandt und Wehner ermöglichte.
    »Karrieren eines Außenseiters – Leo Bauer zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie« hieß die Biographie des heute weitgehend Vergessenen, die 1983 erschien. Am Ende des Buches ist unter dem Titel »Zur Tradition und Identität der SPD« ein Interview mit Willy Brandt abgedruckt, das nach seinen Lebenserfahrungen seit Weimar »aus heutiger Sicht« fragt. »Die wohl wichtigste Lehre aus Weimar ist für mich, dass unnütz darüber gestritten wurde, ob Demokratie oder Sozialismus den Vorrang zu beanspruchen hätte«, begann Brandt. »Das geschichtliche Versagen beider – oder aller drei – Hauptrichtungen der alten Arbeiterbewegung liegt darin, dass nach dem Krieg die Demokratie nicht hinreichend gesichert war. Ich bleibe davon überzeugt, dass Hitler zu verhindern gewesen wäre, wenn sich die Spaltung der Arbeiterbewegung insoweit noch hätte überwinden lassen. Die geschichtliche Verantwortung hierfür lastet besonders stark auf der KPD und ihrer Moskauer Vorherrschaft. Die Arbeiterbewegung im Ganzen hatte kein hinreichend entwickeltes Verhältnis zur Ausübung demokratischer Staatsmacht.«
    Auf einen »gemeinsamen Erfahrungshorizont« angesprochen, führte Brandt aus: »Der generationsmäßige Hintergrund sollte insgesamt wichtig genommen werden. Nicht nur Linkssozialisten und Ex-Kommunisten wie Leo und ich, sondern auch die meisten Gleichaltrigen, die ihrem Selbstverständnis nach immer Sozialdemokraten blieben, empfanden sich zu unserer Zeit als Söhne und Töchter der einen Arbeiterbewegung, die während des Weltkrieges gespalten worden war und von der man

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