Das Musterbuch (German Edition)
Giorgione war entrüstet, und es wurde eine Kommission zur Beurteilung und Bewertung der Malerei eingesetzt, geführt von Giovanni Bellini. Die Gutachter hiessen Lazzaro Bastiani, Vittore Carpaccio und Vettore di Matteo. Sie schätzten die Malerei auf einen Wert von 150 Dukaten, gezahlt wurde aber schliesslich ein Betrag von 130 Dukaten.
Giorgione wurde zornig und darüber hinaus eifersüchtig, galten die Fresken des Kollegen Tizian in der Öffentlichkeit als die Gelungeneren! Tagelang sass der um zehn Jahre ältere Giorgione schmollend in seinem Haus und missgönnte ihm den Ruhm. Hatte er selbst ihm nicht die Eingebung zur stärkeren Farbigkeit gegeben? Hatte das Volk die Botschaft seiner Nuda überhaupt begriffen? Um diese Gedanken zu durchleben schuf er eine Judith, welche diejenige des Tizians bei weitem übertreffen sollte: keine Brust und Bein enthüllte Frau mit einem Schwert in der erhobenen Hand, als hätte sie Ähren geschnitten und stellte mehr wie aus Versehen einen Fuss auf den unten liegenden Kopf des Holophernes, nein, er schuf eine Venus, die wie die antike Göttin ihren Fuss auf die Schildkröte setzte, gleich der Skulptur des griechischen Bildhauers Phidias! Sie war nicht eine selbstherrliche Besiegte sondern eine selbstlose Siegern; ihr Bein lag zärtlich und gefühlvoll auf dem Kopf des schönen Mannes, der selbst über den Tod hinaus noch lächelte. Dieses Triumphgefühl lebte Giorgione gleich ein zweites Mal aus, indem er in Montagnana die Innenfassade des Domes mit demselben Bildmotiv ausmalte. Und gleich daneben schuf er noch ein zweites Bild, dasjenige vom David mit dem Kopf Goliaths in der linken Hand. Und hier war es nur sein Erfolg!
***
Giovanni sass an einem Tisch im Atelier und hatte sämtliche Zeichnungen vor sich ausgebreitet. Heute, am Sonntag, konnte er sicher sein, dass kein Gehilfe ihn stören würde.
Es waren insgesamt drei Bündel Blätter, die er auseinanderdividierte und nach Gruppen einteilte. Einmal der Stapel Blätter aus dem Erbe Mantegnas, dann der Stapel vom Bruder Gentile, im dem einige Blätter separat zusammengefasst waren mit dem Vermerk: 'Carpaccio', und dann seine eigenen Blätter, die der Vater ihm einst vermacht hatte. Er nahm die Einteilung nach folgenden Gruppen vor: Architekturstudien, Figuren und Akte, Landschaftsblätter. Zusammen würden sie ein umfangreiches Musterbuch ergeben, das bedeutendste, das je ein Künstler hinterlassen hatte! War doch sein Vater Erneuerer der klassischen Kunst, der die rhythmisch-fliessenden Linien des Quattrocento bewahrt hatte, indem er sie in Landschaftskulissen und Architekturräume der Antike setzte. Kannelierte Säulen, perspektivische Verkürzungen von Mensch und Tier: er schuf dreidimensionale Darstellungen in klaren Tiefenräumen! Wege, Berge, Bäume, Pflanzen - sein Vater hatte ausserdem eine Liebe fürs Detail entwickelt und diese Liebe hatte er ihnen als Erbe hinterlassen.
Danach war die Kunst seines Bruders Gentile, die seines Schwagers und seine eigene Kunst drei verschiedene Pfade gegangen. Sein Bruder war eine Art Berichterstatter geworden, er selbst die Subtilität des menschlichen Antlitzes zum Hauptthema seiner Kunst gemacht und ihr die lyrische Landschaftswiedergabe hinzugefügt, Andrea aber hatte kühn die Gesetze der Perspektive angewendet! Von ihrer Symbiose würden die Generationen nach ihnen profitieren!
Giovanni fasste alle Blätter in eine schwarze Mappe und beschrieb sie mit grossen Lettern: DAS MUSTERBUCH DES JACOPO BELLINI. In dem Moment als er fertig war, pochte es an der Tür: "Sì“, Giovanni war gespannt, wer ihn am Sonntag aufsuchen wollte. Da trat sie ein, seine Elena! Mit einem kecken Lächeln, wie damals, als sie zum ersten Mal zu ihm ins Atelier kam sagte sie: "Würde der Meister mich malen?" Giovanni war gerührt und schloss sie fest in die Arme, wobei er ihr pochendes Herz spürte, denn die Jahre waren auch an ihr nicht vorbeigegangen und die Stufen nach oben hatten sie offensichtlich viel Energie gekostet. Doch mit ihren einundsiebzig Jahren hatte sie sich noch ihr frisches, junges Aussehen bewahrt, wenn auch mit kleinen Fältchen durchzogen.
"Ich male dich gern, liebe Elena, weil du mir dann so nahe bist!" erwiderte Giovanni. "Ja, ich denke, wir sollten die Zeit nutzen, um über vergangene Zeiten zu sprechen! Seitdem mein Bruder das Dogenamt bekleidet und du ein angesehener - ja der bedeutendste Maler unserer Stadt geworden bist, frage ich mich, ob die Ehre meiner Familie und
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