Das Musterbuch (German Edition)
dein Ruhm all diese Opfer meinerseits wert waren: Ich habe nämlich immer nur verzichtet...". Elena setzte sich dabei und ihr mit grünen Pflanzen durchwirkter blauer Wollschal war ihr auf den Hinterkopf gerutscht. Schon begann Giovanni, die Konturen ihres Gesichts auf einer freien Leinwand festzuhalten. Noch immer kam das Braun ihres Haares zwischen den vielen grauen Strähnen zum Vorschein, und er beschloss, in Erinnerung an alte Zeiten alle Zeichen des Alterns zu übertünchen. Und sie erzählte weiter: "...unser Sohn hat einen Weg eingeschlagen, mit dem wir beide nicht gerechnet haben; du bist zudem Vater eines berühmten Juristen und deine Frau - Gott habe sie selig - liegt nun seit drei Jahren unter der Erde." Giovanni war überrascht, dass die Erwähnung seiner toten Frau keinerlei Trauer in ihm aufkommen liess. Nein, sie war eine gute Ehegattin - aber niemals seine Geliebte gewesen, so wie Elena. "Was wäre aus mir geworden, an deiner Seite? Ich hätte wie sie tagtäglich auf dich im Hause gewartet und du hättest Stunden über Stunden im Atelier verbracht, unfähig mit mir deine Liebe zur Kunst zu teilen." Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: sie hielt ihm einen Spiegel vor, und diesen Spiegel wollte er in ihr Porträt einbringen! Denn seine Liebe - die galt doch immer nur ihr, das sollte sie erfahren.
Das Betttuch von damals, das er schon vor etlichen Jahren in ein Madonnenbild von Elena eingebracht hatte, malte er mit Weiss aufgehellt, rosafarben. Es umschlang aber nicht mehr, als einen Teil ihrer Arme und Hüften...
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Diese neue Begegnung mit seiner Geliebten machte den alten Bellini wieder tatkräftig und er setzte seine Arbeit an einem Gemälde fort, das bereits im Jahre 1494 bei ihm in Auftrag gegeben worden war, vom Kaufmann Giorgio Diletti. Vorteil dieser langen, dazwischenliegenden Zeitspanne war, dass sich der Auftraggeber kaum selbst erinnerte, welche Heiligen er darstellen lassen wollte. So stellte Bellini die Heiligen Christophorus, Hieronymus und Ludwig von Toulouse da, und zwar den Ludwig mit einer Schrift des Heiligen Augustin in der Hand: 'De civitate Dei'. Die Lilien des Hauses Anjou kennzeichneten den gebürtigen Adligen, der, um Franziskaner zu werden, auf den Thron verzichtet hatte. In griechischer Schrift wollte Bellini den Psalm 14 anbringen. Seinem Freund Aldo Manuzio verdankte Giovanni eine Ausgabe des Psalters von 1498 aus seiner Druckerei. ' Der Herr schaut vom Himmel auf der Menschen Kinder, dass er sehe, ob jemand klug sei und nach Gott frage' . Dieser Spruch sollte daran erinnern, dass der Aufstellungsort des Altarbildes, die Kirche San Giovanni Crisostomo, Zentrum der griechisch-venezianischen Gemeinde war.
Und der Heilige Hieronymus sollte hoch oben den Höhepunkt geistigen Lebens repräsentieren! Aber es ging ihm mehr als um eine Bestätigung seiner religiösen Überzeugung hierin. Es sollte einen Beitrag darstellen zu den grundsätzlichen Fragen der Theologie, die in dieser Zeit heftig in Venedig diskutiert wurden.
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Elena, nunmehr eine gebeugte Gestalt, trat langsam und leise ins Studiolo, denn sie wusste, das Giovanni sich um diese frühe Abendstunde meist oben auf dem Bett ausruhte, und dann noch einmal die letzten Strahlen der Abendsonne nutze, um das ins warme Rot getauchte Licht in seine Palette einzubinden.
Oben im Atelier, in dem Giovanni nun auch sein Bett aufgebaut hatte, stand auf der Staffelei leicht dem Fenster zugewandt ein Bild. Elena kam direkt hieran vorbei. Der dunkelblaue Abendhimmel im Bild war wie in Wirklichkeit lediglich von einem tiefen, senkrechten Goldstrahl erhellt, der noch an die untergegangene Sonne erinnerte. In das rote Betttuch gehüllt sass Elena da, wie sie sich einen Spiegel vorhielt und sich bei erhobenem linkem Arm betrachtete. Aber auch hinter ihr an der fast schwarzen Wand befand sich ein Spiegel, der ihren Hinterkopf mit einer perlendurchwirkten Verzierung im blauen Schal zum Vorschein kommen liess. Das Tuch war nach hinten gerutscht und - ihre Haare waren im Abendlicht bräunlich, also nicht der Realität entsprechend. Sie war nackt in all ihrer Schönheit zu sehen!
Überhaupt war diese Frau nicht vom Alter gezeichnet. Das rote Tuch bedeckte lediglich die Scham, eine Brust lugte hinter dem gebeugten rechten Ellenbogen hervor. Die Tischdecke war wiederum real, denn Elena kannte sie als einziges Schmuckstück im Atelier, das Giovanni an Festtagen auflegte. Darauf lag ein Zettel.
Elena liess den Blick
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