Das Musterbuch (German Edition)
Gemälde aus Mantua gebracht. Langsam entrollte er das friesartige Werk langsam vor den Augen Bellinis. Giovanni Bellini dachte dabei an die vielen Briefe, die er an Isabella d'Este geschrieben hatte, und worin er betonte, dass er kein Maler komplizierter Themen sei. Mantegna hingegen hatte es gewagt! Und in welch einer grandiosen Form! Dieses herrliche Grisaille, der Reichtum skulpturaler Figuren und dann der Bewegungsakt des Scipios selbst, der auf seinem römischen Thron auf ein Epitaph wies: TURPIUS IMPERARE VENEREM QUAM MISERICORDIA ADIVVARI, was so viel hiess wie: Die Schmach gebietet es, der Jungfrau Mitgefühl entgegen zu bringen!
Wie aber sollte er dieses Meisterwerk vollenden? Sollte er Mantegna lediglich ergänzen oder gar übertrumpfen? Bellini erbat sich Bedenkzeit.
Nach drei Tagen stand er endlich im Palazzo Corner in San Polo, der vom Architekten Michele Sanmicheli aus Verona gerade erbaut worden war, und schaute sich die fertigen Werke Mantegnas an. 'Scipio mit der knienden Claudia Quinta neben dem Bildnis der Kybele' lag hier thematisch am nächsten. "Warum aber hatte Mantegna dieses Werk nicht vollendet? Ist es nicht schon lang in Auftrag gewesen?" "Ja, der alte Mantegna! Störrisch war er und zuletzt völlig verarmt und dann forderte er noch exorbitante Summen für das Werk...“ "Gratis werde ich es zwar nicht vollenden, aber in Andenken an den grossen Künstler von Mantua mache ich mich an das Werk!" Giovanni Bellini hatte als Leiter der Caposcuola in Venedig genug Geld, um zu entscheiden, welchen Auftrag er aus Interesse annehmen wollte.
Giovanni nahm die Scipio-Episode nach Livius und Valerius Maximus: 'Im Jahre 209 ist der wesentliche Kriegsschauplatz Spanien. Scipio stösst in Eilmärschen bis Carthago nuovo vor, erobert die Stadt mit den spanischen Geiseln der Karthager... ' und mit den Geiseln erhielt Scipio eine wunderschöne Jungfrau; aber er verschonte sie und schickte sie ihrem Verlobten und ihren Eltern zurück. Dieser grossartigen Tat wollen die Eltern danken. Aber Scipio, auf seinem Thron sitzend, wies das Lösegeld grossmütig zurück. Soweit die Geschichte, dargestellt von Mantegna.
Wie soll es weitergehen? Hatte Mantegna wieder eine kniende Frau vorgesehen, als Pendant zur Claudia Quinta. Giovanni nahm den Federkiel zur Hand. Die Eltern vorn, beladen mit Dankesgaben, dahinter die schöne Jungfrau. Sie ging mutig einen Schritt auf Scipio zu, dieser sass in Bereitschaft, sich jederzeit vom Thron zu erheben. Das Gewand der Schönen sollte transparent wirken. Ihr Bewegungsschwung sollte sich im Peronal, der Begleitung des reichen Keltiberers, fortsetzen. Nur dieser selbst, ihr Verlobter, wirkte wie eine Erinnerung an die Gestalten Mantegnas auf der linken Seite. Ein störrisches Pferd von vorn, ein einsamer Eremit am Schluss, ein Kirchenmann und dazwischen einfache Krieger lockerten die Szene auf. Und die Figuren selbst - waren eine Hommage an Mantegna! Sein Heiliger Johannes - hier als Standfigur zwischen zwei Pferden -, seine tanzenden Musen - hier als Männer mit Toga - dienten Bellini als Inspiration! Leben und Tod, Ehre und Ruhm! Dieses Werk war nicht nur Veranschaulichung moralischen Handelns des römischen Konsuls. Es war eine Summe ihrer gemeinsamen Kunstanschauung, einer Kunst zwischen Tradition und Moderne! Damit hatte Giovanni Bellini das Schlusswort zur Malerei des Quattrocento gesprochen, einer Malerei, die bereits im Ablösungsprozess stand.
***
Ein Brief aus Ferrara von Alfonso d'Este überraschte Giovanni eines Tages, überbracht von einem Boten vom Hofe d'Este. Der Herzog wünschte ein Gemälde von ihm - noch dazu mit einem allegorischen Bildthema! Als literarische Quellen nannte Alfonso die Fasti des Ovid. Danach wurde bei einem Fest der Kybele von Priap versucht, die Göttin der Keuschheit, Lotis, zu verführen. Doch der Esel machte ein Geschrei und der Fasan verriet den Täter. Giovanni wollte diese Thema abändern: es sollte ein Bacchanal, ein grosses Fest gemäss dem Dionysoskult werden. Deshalb schliefen die Götter nicht sondern nahmen am unzüchtigen Beisammensein teil. Apollon stützte sich auf einer Lyra da braccia ab und trank vom Wein, Neptun mit dem Dreizack griff einer schönen Frau zwischen die Schenkel, Merkur beobachtete wollüstig die Annäherung des Priapus an eine Schlafende, der ihr den Kleidersaum hob, und ein Silen entfernte sich am rechten Bildrand von der Festszene, den Phallus wie eine Trophäe davontragend. Sechs Frauen, zum Teil
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