Das Musterbuch (German Edition)
mit freier Brust, begleiteten die Götter, zwei alte Männer und ein Kind oder Bacchus-Knabe ergänzten sie. Zwei Männer mit nacktem Oberkörper waren die Gefährten des Dionysos.
Der neunte Gesang des Homer und die Metamorphosen des Ovid hatten Bellini inspiriert, und auch Dichter wie Raffaelo Regio und Giovanni di Bonsignori. Alfonso wurde es nicht leicht gemacht, die Szene zu entschlüsseln!
Doch Giovanni wollte keine Illustration einer bekannten Szene, er wollte seine Geschichte darstellen. Sich selbst wollte er als Neptun darstellen vereint wie als Ehepaar mit seiner Elena; und hinter ihr sass als Vater Zeus sein Bruder Gentile, unfähig, sich dem Rausch des Lebens ganz hinzugeben. Rechts aussen, das waren Giorgione mit der Lyra und Tizian als Gott des Weines, der immer so viel Humor besass! Wohl distanziert und reflektierend war der Götterbote; er sollte die Physiognomie desjenigen einnehmen, der dem Himmel am nächsten war - Andrea Mantegna. Hinter dem Esel sah man noch Pietro Bembo, dem Mittelsmann der Gonzaga für die Allegorie, die Bellini nun aber für ihren Bruder malte. So stellte sich Giovanni Bellini sein Götterfest vor, das eher einem Fest des Lebens entsprach, wie es hätte sein können. Sogno di fanciulla - Traum eines Mädchens - nannte Lorenzo Lotto sein Allegorie von 1505. Ihm oder einem anderen Schüler würde er die Ausmalung des Landschaftsraumes überlassen.
Vielleicht - so kam es Giovanni später in den Sinn - würden sämtliche Frauengestalten im Bild Ausdruck für weibliche Inspiration sein, die das Leben aller Künstler eine wesentliche Rolle spielte. Für ihn war es die Erinnerung an einen Traum, den er so nie leben durfte!
***
Kaum hatte Giovanni die ersten Skizzen zum 'Götterfest' erstellt, da geschah das, womit man im Leben immer rechnen muss: der Tod trat in die Tür, ins Künstlerleben des Gentile Bellini, seines Bruders, am 23. Februar 1507. Er hatte diesen Bruder, der doch nur sein Halbbruder war, innigst geliebt. Sein Grab sollte in der Kirche Santi Giovanni e Paolo sein, ganz nahe der Scuola Grande di San Marco.
Giovanni sass dem Notar gegenüber, als dieser das von Gentile erfasste Testament vorlas:' verfüge ich, Gentile Bellini, dass mein Bruder Giovanni das gesamte Atelier übernimmt, samt Pigmenten, Pinseln, Leinwand von sechs Ballen und die Holzrahmen. Ferner bitte ich meinen geliebten Bruder, das von mir begonnene Werk zur 'Predigt des Heiligen Markus' für die Scuola von San Marco zu beenden.
Ausserdem hinterlasse ich meinem Bruder das Skizzenbuch unseres Vaters, das seit seinem Tod in meinem Besitz war.' Giovanni wusste, dass er mit diesem letzten Teil an Zeichnungen das komplette Musterbuch seines Vaters besass. Er war gerührt!
Kaum waren die Formalitäten zur Beerdigung erledigt, erhielt Giovanni offiziell den Auftrag von der Scuola Grande di San Marco. Die anderen Bilder des Zyklus zum Leben des Heiligen waren in der typischen Manier Gentile geschaffen. Wie sollte er aber das unfertige Bild mit der Predigt in diesem Stil ausführen?
Hierarchisch waren die Personen nach sozialen Gruppen eingeteilt. Das Bild glich einer grossen Bühne, auf der neben der Kulisse orientalischer Architekturelemente die Hauptkirche Alexandriens stand. Die Kirche und der Platz vor der Dreiportal-Anlage ähnelten der Anlage von San Marco.
Auf der linken Seite erschien der Heilige, erhöht auf einer marmornen Treppe, dem Volk predigend.
Nur - der Heilige selbst war nur im intonaco skizziert, ihn konnte Giovanni noch lebendig gestalten, aber die anderen Figuren waren wie ohne Luft und ohne Licht wiedergegeben! Giovanni nahm sich einzelne Gestalten zum retuschieren vor, um sie im Gesamtklang des Lichts an einigen Stellen hervorzuheben. Dadurch wurden jetzt vor allem die Muselmanen auf der rechten Seite betont.
Die Giraffe vor der Basilika schien ihm ein amüsanter Einfall Gentiles. Und dann wuchs noch im Hintergrund rechts eine Palme! Gentiles Zeit in Konstantinopel hatte ihn künstlerisch beflügelt. Albrecht Dürer, der just im Todesjahr Gentile wieder in Venedig verweilte, lobte die Begabung des verstorbenen Venezianers und ebenso die Grosszügigkeit und Aufrichtigkeit seines Bruders Giovanni, mit dem er abermals in Kontakt trat.
Ein Schüler in seinem Atelier trauerte lang über den Tod des Meisters: Vittore Carpaccio! Es vergingen Wochen und Monate, ehe Vittore sich wieder unter den Kollegen sehen liess, und in die Scuola San Giorgio degli Schiavoni, für die er jetzt
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