Das Mysterium der Zeit
freien Gemeinde genoss, die Einrichtung der Nachtbehörde geschaffen, eine Gerichtsbarkeit, die über das anale Laster wachen sollte. Es gab eine Miliz, eine Verwaltung und Gelder, um Spione zu bezahlen. Alle Ärzte waren verpflichtet, Fälle anzuzeigen, in denen jemand sich den After verletzt hatte oder »Hahnenkämme« aufwies, jene Gangräne, die die Rosette der warmen Brüder schmückt. Doch die Medici konnten die Nachtbehörde ohne großen Widerstand des Volkes abschaffen, denn sie hatten das Gerücht verbreitet, sogar der alte Doffo di Nepo degli Spini, der ehemalige Gonfaloniere, welcher das Gericht der Nachtbehörde gegründet hatte, sei in flagranti ertappt worden. Mit seinen siebzig Jahren habe er einen vierzehnjährigen Jungen vergewaltigt, hieß es, und zwar zusammen mit dem sechzigjährigen Kammerherrn Johannes, dem deutschen Diener des mächtigen Palla Strozzi. Die Nachtbeamten wurden durch die »Acht Wachhabenden« und die »Hüter der Gesetze« ersetzt, deren Wachdienste diskreter waren, und es ist wohl kein Zufall, dass ihre Verzeichnisse nach einer Weile verlorengingen.
Muss ich noch mehr sagen? Du, Atto, bist also nichts anderes als die kostbare Beute einer schmutzigen Treibjagd.
Gib acht, denn die Pistoieser, deine Landsleute, die dich glühend um deinen Aufstieg beneiden, haben deine Leidenschaft für Frauen und all den Gram, den du dessenthalben im Herzen trägst, schon in |39| alle Winde ausposaunt. Hast nicht du selbst verkündet, nach Vollendung deines achtzehnten Lebensjahres würdest du keine Frauenrollen mehr singen? In Pistoia ist jenes dir wohlbekannte, mit Bosheiten gespickte Gedichtchen im Umlauf, das Spottlied mit dem Titel
Über Atto Melani, kastrierter Musikus aus Pistoia, Sohn eines Glöckners
, darin man dich in einer Strophe zum Liebhaber der Frauen macht:
Schon ist es kein Geheimnis mehr:
Ein kleines Spielchen gefällt Euch sehr.
Vorzüglich beim Damespiel könnt es Euch passen,
am Ende die Hosen herunterzulassen.
Für solche Gier kommt die Strafe mit Recht,
da das Spiel Ihr verliert beim schönen Geschlecht,
wenn Euch alsbald die Spannkraft verreckt,
dass die Rute Euch zwischen die Backen gesteckt.
Vergesst den Glockenturm nicht!
Aufgepasst, denn schon vor drei Jahren haben die jüngeren Geschwister des Großherzogs und seines Bruders Mattias Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit Ihr nicht zu Mazarin nach Frankreich geht, um die
Finta Pazza
zu singen. Giovan Carlo, Leopoldo und Anna fürchteten, dich zu verlieren und mit dir die Wonnen, die du ihnen während und nach den Gesangsabenden in ihren Schlafzimmern verschafftest. Besonders Anna wurde fuchsteufelswild, weil sie, wie sie sagte, mit dir ihren Partner für Duette verlor. Und das waren nicht nur Gesangsduette, wie wir beide wissen. Als du sie dann in Innsbruck besuchen gingst, wo sie die Gemahlin des Erzherzogs von Österreich geworden war, richtete sie während der ganzen zwei Monate deines Aufenthalts nie das Wort an dich und rief dich auch kein einziges Mal in ihr Zimmer, um mit ihr zu singen, nein, sie zog dir andere Sänger vor, um sich Erleichterung von ihren Schwangerschaftsbeschwerden zu verschaffen.
Als ich in unser Gelass im Achterkastell trat, hub ich also ehrerbietig an:
»Signorino, Ihr dürft Euch nicht so über die Maßen ermüden. Ihr müsst Eure Kunst schützen, erinnert Ihr Euch nicht?«
»Ich erinnere mich«, war deine trockene Antwort.
|40| BETRACHTUNG
Darin einige Erinnerungen an vergangene Zeiten die zwei Arten von Kastraten erklären und darlegen, welcher der junge Atto Melani angehört.
Erinnerst du dich wirklich, junger Atto, an jenen Tag vor zehn Jahren? O ja, du erinnerst dich. Du warst schon halb benebelt von jenem orientalischen Kraut, als sie dich in die Wanne mit kochendheißem Wasser legten, wie man es mit den Hummern macht, um sie zu betäuben, während deine Mutter im Nebenzimmer schluchzte und dein Vater feige floh.
Was du aber nicht wissen kannst, junger Atto, ist, dass ich, der Secretarius, den Bader bezahlte, damit er nur die Samenleiter durchschnitt und deine beiden Kügelchen nicht gänzlich entfernte, wie es die abstoßende Mode dieser Zeit verlangt.
Vor der Operation hatte ich mir einige Kenntnisse verschafft. Werden die beiden männlichen Drüsen von den Samenleitern getrennt, schrumpeln sie zusammen und verschwinden fast, das ist wahr, aber eben nicht ganz.
Sie zu entfernen, ist weitaus schlimmer: der Knabe geht seiner männlichen Natur vollkommen
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