Das Mysterium der Zeit
Diebe in der Nacht; maskierte Banditen, die Kutschen überfallen; Schüsse von einem Dach; Messerstiche ins Herz durch einen vermummten Passanten; und so weiter. Alle entmannten Sänger, die auf diese Weise umgebracht wurden, hatten zufällig ein Liebesverhältnis mit einer Frau.
Doch um den Befehlen unserer Herrscher, der Medici, nicht zuwiderzuhandeln, trug ich jetzt selbst dazu bei, das Licht zu verdunkeln, das ich in dir wachgehalten hatte. Deine Zukunft lag in den Betten deiner Padroni, die dich unter dem Vorwand deiner Gesangskunst einander weiterreichten – ein anderes Schicksal war undenkbar. Dem Willen des Fürsten Mattias de’ Medici, Bruder des Großherzogs und Gouverneur von Siena, nicht zu gehorchen, konnte dich teuer zu stehen kommen, wenn Mattias’ Interesse an dir das war, was man vermuten durfte. Ließ er sich doch aus Rom fortwährend hoffnungsvolle Sänger aller Art kommen: ob alte Weiber oder Huren, Frauen oder Männer war Mattias herzlich egal, er stellte sie alle mit Wonne auf die Probe.
Für dich ist das der Weg gewesen, auf dem du dir Ehren am Hof von Florenz, den Applaus in venezianischen Theatern und jetzt das Vertrauen Kardinal Mazarins erwerben konntest, und das muss der Weg bleiben.
Während ich dein Profil betrachtete, das am Heck dem Wind des Toskanischen Archipels trotzte, fragte ich mich: War das einsame Leben |43| des Kastraten nicht schon den Sternen deiner Geburtsstunde eingeschrieben? War nicht schon alles in deinem Vater vorgezeichnet?
Dein Vater Domenico Melani. Eine erste Ehe wurde unerklärlicherweise schon nach acht Monaten aufgelöst, der Grund soll nach seinen Worten die Braut gewesen sein, die er in sinnlicher Umarmung mit einer schönen Wäscherin erwischt hatte. Ich wusste, dass das Gegenteil zutraf: Die junge Braut hatte Domenico in flagranti im Bett mit dem Bischof ertappt und war weinend mit ihrer ganzen Aussteuer zu den Eltern zurückgekehrt.
Der Bischof erkaufte sich Domenicos Schweigen mit einer ansehnlichen Summe Geldes. Mit vierzig heiratete dein Vater erneut und zeugte eine große Kinderschar. Nur so ließen sich die Gerüchte über seine Beziehung zum Bischof aus der Welt schaffen, denn der hatte Domenico vom Glöckner zum Sänftenträger befördert und euch alle, seine sieben Jungen, im Chor der Kapelle und in der Bistumsschule untergebracht, obwohl dort nur Platz für zwanzig Schüler war. Also gingen die Klatschgeschichten munter weiter.
Wie den nagenden Verdacht ausmerzen, dass dein Vater die männliche Natur insgeheim hasste? Nur ein Sohn wurde verschont, Giacinto, weil er für Nachkommen sorgen sollte. Vier wurden mit Sicherheit kastriert, zu ihnen gehörtest du. Bei Jacopo und Alessandro schließlich hatte ich den Bader ebenfalls vor der Kastration bestochen, so wie bei dir und deinen anderen Brüdern, aber das Ergebnis war, dass sie in den Stimmbruch kamen. Zornentbrannt verfluchte dein Vater den Bader … Alessandro schlägt sich jetzt als Komponist durch, und Jacopo ist sogar Tenor geworden, freilich ein sehr hoher, fast schon ein Altus. Sie teilen dein Schicksal, niemals heiraten zu dürfen. Ich habe getan, was ich konnte.
Welcher Vater lässt sechs von sieben Söhnen in zartem Alter verstümmeln und setzt sich überdies dem Risiko aus, ohne Nachkommen zu bleiben?
Die Leute sagen: Er hat es fürs Geld getan, die Mäzene haben ihn großzügig entschädigt. Mag sein, doch indem er seine beiden Töchter ins Kloster schickte, hat Domenico auch den weiblichen Teil der Familie ausgelöscht und nichts dafür bekommen. Euren Segen hat er gewiss nicht gehabt. Als wir von unserer dritten Reise nach Paris zurückkamen, ist er aus einem Fenster seines Hauses gestürzt. Seltsamer Tod. |44| Dies sind die Klatschgeschichten, die seit eh und je in Pistoia umgehen. Deinen mächtigen Beschützern sind sie jedoch fast oder vollkommen gleichgültig. Mit der Taufe bist du in die Obhut der Sozzifanti gekommen, Cavalieri des Ordens Santo Stefano. Und schon als Kind unterstandest du der Befehlsgewalt von Mattias, dem Bruder des Großherzogs, der wie jeder große Fürst seine privaten Zerstreuungen pflegt, auf die er nicht zu verzichten gedenkt.
Nachdem ich so für mich gegrübelt hatte, wählte ich vorsichtigere Worte, um dich an diese traurigen Themen zu erinnern.
Und so schwiegst du, während ich sprach und wir uns im Achterkastell mit zwei Decken aus grober Wolle vor dem Wind schützten. Auch dein Körper verriet deine Gedanken nicht. Am Ende meiner Rede
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