Das Mysterium der Zeit
Selbstbildnis Botticellis erkennen, mit den hängenden Lidern des Entarteten, den halb geöffneten Lippen des Lüstlings, dem lasziven Blick, der einladend den Blick des Betrachters erwidert. Auf der gegenüberliegenden Seite drängen sich Lorenzo, der Poliziano und Pico della Mirandola, in der Gestalt von Rittern getarnt, unter dem Vorwand kameradschaftlicher Nähe einer dicht hinter den anderen. Muss ich dich an die unflätigen Sonette erinnern, die Pico und sein Liebling Girolamo Benivieni sich schrieben? An das Grab, in dem sie sich zusammen bestatten ließen? An den Grabstein in der Kirche San Marco, der ihr Idyll feiert?
Francesco di Lazzaro de’ Medici, ein Cousin Lorenzos und ordentlich verheiratet, wurde sieben Mal von ebenso vielen Lustknaben denunziert. Machiavelli hatte ihn angezeigt, weil er Huren von hinten vögelte, was verboten ist, doch es war allseits bekannt, dass Machiavelli selbst sich mit seinen Freunden brieflich über sodomitische Freuden während ihrer Jugendzeit austauschte.
Das Entsetzen des Volkes ob der Ausschweifungen ihrer Herrscher dämpften allein obszöne Gerüchte über die Bevölkerung von Florenz, die wie Pilze aus dem Boden schossen und von schlauen Häschern |37| in Windeseile weitergegeben wurden: Die toskanischen Kaufleute vergnügten sich mit ihren Botenjungen, die Lehrer mit ihren Schülern, die Alten mit den Jungen, die Stadtherren mit ihren Bürgern, die Mächtigen mit den Armen. Schon bald gingen diese Verleumdungen um die Welt, darum sagten die Teutschen früher
Florenzer
, wenn sie einen Sodomiten meinten, und die Päderastie wurde das
florentinische Laster
genannt.
Und so kam es, dass die Herren der Stadt, um die vom Großherzog bestellten Verleumdungen zu bestätigen, sich seither kleine Jungen und Jünglinge im Alter von sechs bis sechzehn Jahren beschaffen. Von niedriger Herkunft sollen sie sein, denn wer hoch steht, der gibt, wer unten steht, nimmt. Sie führen sie zum Spaziergang aus, in kurzen Hemdchen, die den Nabel freilassen, und Hosen, die vorne wie hinten aufzuknöpfen sind. Sie nennen diese Kinder Hündchen, Lustknabe und Hürchen. Im Volk heißen sie dagegen Sodomiten, Hinterlader und Schwanzlutscher. Wenn sie erwachsen werden und erkennen, dass sie gebrandmarkt sind und ihr Leben sich nicht mehr ändern lässt, haben sie keine andere Wahl, als sich in Bordellen feilzubieten. Will man den Medici Glauben schenken, keucht ganz Florenz vor Geilheit wie eine riesige pulsierende Harnblase. Sie verbreiten das Gerücht, dass diejenigen, denen Bordelle für Männer oder die Unzucht im eigenen Haus langweilig geworden seien, es des Nachts auf der Straße treiben oder in den Gärten der Stadt, den Kloaken, im Campanile des Giotto und sogar in der Kuppel des Doms, was angeblich einer ihrer Lieblingsorte ist.
Wenn in Florenz eine Ehe, aus der Kinder hervorgegangen sind, von einem Tag auf den anderen in die Brüche geht, wird sofort das Gerücht ausgestreut, der Grund seien nicht Huren oder Geliebte, sondern Sodomiten und Lustknaben. Im besten Fall argwöhnt man, der Ehemann habe von seiner Frau nur noch den Hintern gewollt. Auch du kennst einige dieser Geschichten, wie die vom Cavaliere Flaminio Pappagalli aus Pistoia, deinem Landsmann also, den der Großherzog persönlich zu sich rief, um ihm mitzuteilen, seine Gemahlin posaune überall heraus, dass er ihr sein Gemächt nur noch von hinten oder im Mund überlasse. Der Ärmste ahnte nicht, dass ihm ein übler Streich gespielt wurde, kehrte außer sich vor Zorn nach Hause zurück und schnitt seiner unschuldigen Ehefrau mit einem Rasiermesser die Kehle durch, ohne noch Erklärungen von ihr zu fordern. |38| Er selbst wurde enthauptet, bevor er erkennen konnte, dass er ein Opfer der teuflischen Propaganda des Großherzogs geworden war. Und so erinnern sich heute alle Toskaner an den unglücklichen Cavaliere Flaminio Pappagalli als an einen schamlosen Päderasten. Die Toten können sich nicht verteidigen.
Seit ihrer Ankunft in Florenz vor dreihundert Jahren lassen die Medici nachts Banden durch die Stadt streifen, die auf offener Straße Nachtschwärmer vergewaltigen und sich ihrer Taten lauthals brüsten. Damit soll das Gerücht, dass das verruchte Laster in ganz Florenz verbreitet sei, Glaubwürdigkeit bekommen, vor allem aber sollen die Wachen von den sodomitischen Ausschweifungen der Medici abgelenkt werden. Nachdem das ein Jahrhundert lang so gegangen war, hatte die Stadt Florenz, die noch die alten Rechte einer
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