Das Mysterium der Zeit
verlustig, sein Geist wird passiv, sein Gemüt weich, er ist ein willenloses Objekt in den schmutzigen Händen seiner Kuppler. Ganz abgesehen davon, dass bei der vollständigen Verstümmelung die Gefahr von Infektionen, tödlichem Fieber und starken Blutungen hundertmal größer ist.
Wie viele Knaben sind bei der Operation verblutet? Wie viele von ihnen haben sogar die Sprache verloren und sind ihr Leben lang stumm geblieben?
Zu jenem Zeitpunkt hatte ich schon meine zwei Töchter, sonderlich aber einen männlichen Erben, das Thema war mir daher nicht gleichgültig.
Lässt man die Hoden unversehrt und schneidet nur die Samenleiter durch, muss man freilich mit anderen Risiken rechnen. Es gab den Fall des jungen Kastraten, der auf dieselbe Weise operiert wurde wie du und ein starkes männliches Begehren behalten hatte. Zunächst ging er zum Schein auf die Forderungen seines Gönners ein, doch schließlich packten ihn große Wut und ein so unüberwindlicher Abscheu, dass |41| er ihn tötete und sich zuletzt selbst von den Zinnen seines Palazzo stürzte. Und ein anderer Kastrat ward vom Zorn auf seinen Vater, der ihn hatte kastrieren lassen, übermannt, sodass er aus Dresden, wo man ihn mit Ehren und Reichtümern überhäuft hatte, nach Italien zurückkehrte, nur um seinen Vater aufzuschlitzen und die väterlichen Eingeweide und Genitalien den Hunden zum Fraße vorzuwerfen.
Kleine Jungen, lautet die Regel, werden ordentlich kastriert und sodann von den Weibern ferngehalten. Punktum. Nicht ohne Grund verbot Papst Sixtus V. vor fast sechzig Jahren jeden fleischlichen Verkehr zwischen Kastraten und Frauen. Sogar die häretischen Theologen Deutschlands, welche sich sonst in allerlei Haarspaltereien gefallen, verbieten den Entmannten die Ehe, weil ihr Samen nicht fortpflanzen kann, wohingegen sie das Zusammenleben
more uxorio
mit einem Mann oder einem anderen Kastraten gestatten.
Durch meinen heimlichen Einfluss auf die Operation habe ich dich also vor dem Abgrund der völlig Entmannten gerettet, um dich in den weniger düsteren, aber leidvolleren und von der Welt verabscheuten Abgrund der Unfähigkeit zur Liebe, der halbierten Männlichkeit zu stoßen. Ich wusste, dass ich dich in die Reihen der Kastraten verbannte, die von Fürsten, Theologen, Juristen und Verwandten verfolgt werden, weil sie sich in eine Schülerin oder Tochter des Kapellmeisters oder in die Witwe, bei der sie in Pension leben, verlieben. Nicht wenige deiner Vorgänger sind sogar so weit gegangen, ihre Geliebte als jungen Kastraten zu verkleiden, um die heimliche Verbindung in Ruhe leben zu können. In Deutschland gab es einen, der die Wahrheit so gut verschleiern konnte, dass sie erst nach seinem Tod ans Licht kam, weil der vermeintliche Kastrat, der das ganze Leben mit ihm geteilt hatte, sein Erbe beanspruchte. Es stellte sich heraus, dass er eine Frau war und obendrein heimlich mit dem Verstorbenen verheiratet. Wenn solche Kastraten das Jünglingsalter überschreiten, werden sie im Bett ihrer Gönner gewöhnlich durch junge Entmannte ersetzt und erhalten als Lohn für die geleisteten Dienste eine gute Stellung als Kapellmeister. Das ist der Zeitpunkt, an dem viele von ihnen ihren Traum krönen möchten: Sie bitten um Dispens, damit sie mit der Geliebten endlich in den Hafen der Ehe einlaufen können – nicht heimlich, sondern
coram populo
. Ach, sie täuschen sich! Sie vergessen, wie sehr man sie dafür hasst, dass sie, diese erbärmlichen halben Männer, eine Frau an sich gezogen haben. Heißt es im Volksmund nicht, Frauen suchten in |42| einem Mann nur die Manneskraft im Bett, und entlarvt das die Frauen nicht als minderwertige Wesen, die zu höheren Gefühlen nicht fähig sind?
Dieses versteckt sodomitische Denken führt dazu, dass die Kastraten und ihre geliebten Frauen in der lutherischen und calvinistischen Welt sogar exkommuniziert werden. In Rom dagegen lehnen die Päpste die Bitten um Dispens mit geistreichen Bemerkungen ab. Vielen, die als Grund ihrer Bitte eine schlecht ausgeführte Kastration angaben, wurde entgegnet: Dann soll man eben besser kastrieren! Im Königreich Neapel aber finden sich zum Glück noch viele Priester, die aus Mitleid bereit sind, nachts, in aller Heimlichkeit, einen unglückseligen Kastraten mit einer Frau zu vermählen.
Doch nicht einmal diejenigen, die sich mit einer heimlichen Liebschaft abgefunden haben, werden je in Ruhe und Frieden leben können. Allzu viele sind von unbekannter Hand ermordet worden:
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