Das Mysterium der Zeit
betrifft, so sage ich dir eines.« Schoppe, dem vor Wut ein Speichelfaden aus dem Mund lief, schrie nun. »Ihr ungläubigen Pariser Päderasten könnt mich alle …«
Ein nächster Donnerhall, mächtiger als die vorhergehenden, verschloss Caspar Schoppe den Mund. Das Tosen übertönte barmherzig den unwürdigen Streit, der – wie immer bei Weisen und Wissenschaftlern – mit vielen Beleidigungen und wenigen vernünftigen Entgegnungen geführt worden war.
Naudé erhob sich und verließ den Raum unter empörtem Gemurmel. |246| Auch Schoppe stand vom Tisch auf und stellte sich ans Fenster, um von niemandem angesprochen zu werden. Zwei leere Plätze blieben am Tisch zurück.
Der Streit zwischen Schoppe und Naudé hatte den beiden impulsivsten Charakteren unter den vier Gelehrten Gelegenheit gegeben, Dampf abzulassen, nachdem sie während des Abendessens eine so schmachvolle Demütigung hatten erfahren müssen: Vor profanen Laien zuzugeben, dass einer der wichtigsten Historiker der Antike, der große Plutarch, lächerliche, unglaubwürdige Ammenmärchen erzählte. Doch es ging nicht nur um gekränkten Stolz. In der Mitte ihres Lebens oder, wie im Fall von Guyetus und Schoppe, sogar erst im Alter, hatten sie zum ersten Mal erfahren müssen, dass das Goldene Zeitalter Roms und Athens keinen Leitfaden für die Erkenntnis der Wahrheit bieten konnte. Nicht das Beispiel Spartas hatte Nusquama glaubwürdig gemacht, nein, es war umgekehrt: Um Plutarchs Bericht zu bestätigen, hatte Schoppe nichts Besseres anzuführen gewusst, als sich auf die Erzählung der jungen, rätselhaften Frau zu berufen, die man erst vor ein paar Stunden kennengelernt hatte.
Bei all dem war die Herkunft der kurzen Aufzeichnungen über Lykurg, die zu der erhitzten Diskussion geführt hatten, noch völlig unklar geblieben. Hatten sie überhaupt mit dem geheimnisvollen slawonischen Mönch zu tun? Das fragten sich in diesem Moment wohl alle vier Gelehrten.
»Ich möchte wissen, wo Philos Ptetès in diesem Moment ist«, sagte Guyetus, als Erster seine Überlegungen preisgebend.
»Sorgen wir lieber dafür, dass wir einen besseren Zufluchtsort finden als diese Festung und gehen wir diese verflixte Stadt suchen«, warf Malagigi besorgt ein.
Das Papier mit dem Petronius, das im Moment von niemandem mehr beansprucht wurde, blieb in meiner Verwahrung, ebenso die seltsamen Notizen über Lykurg. Von seinem Wutanfall abgelenkt, hatte Schoppe sie auf dem Tisch vergessen, und ich hatte sie mir in die Tasche gesteckt, ohne dass es jemand sah. Außer dir.
|247| DISKURS XXXVI
Darin der Unterzeichnende einen kleinen Spaziergang mit Kemal unternimmt.
Den ganzen restlichen Tag über regnete es in Strömen, und so verbrachten wir ihn herumlungernd und ruhend (vor allem Guyetus und Schoppe, die beiden Greise in unserer Gesellschaft), bis die Nacht hereinbrach und wir direkt in den tiefsten Schlaf übergingen, nachdem wir uns auf den Strohlagern der Garnison ausgestreckt hatten. Wir alle hatten es bitter nötig, Kräfte zu sammeln.
Am nächsten Morgen wuschen wir uns, so gut es ging, und machten uns ein wenig zurecht. Bei einigen waren die Kleider zerrissen, doch zum Glück fanden wir im Turm Kleidungsstücke verschiedener Art, die der Garnison gehört hatten. Nach einem üppigen Frühstück, vom Statthalter Ali Ferrareses mit einer Geschicklichkeit zubereitet, die wie ein Zauberkunststück beklatscht wurde, waren wir zum Aufbruch bereit. Doch da fielen Schoppe und Guyetus erneut die Augen zu, weil sie zu viel gegessen und ihre Kräfte noch nicht zurückgewonnen hatten.
Unterstützt von dem düsteren Wintertag schloss der gute Gott Morpheus, der sanfte Despot über die menschliche Ruhe, der ganzen Gesellschaft erneut die Augen, zumal auch das leise, aber insistente Schnarchen des Deutschen und seines Pariser Kollegen ansteckend wirkte. Das nutztet ihr beide, du und Barbello, natürlich aus, um euch zu intimen Aktivitäten zurückzuziehen, welche ihrerseits den Schlaf befördern. Malagigi sorgte wie gewohnt dafür, dass ihr euch unbeobachtet davonschleichen konntet. Nur zwei Personen widerstanden dem Herrn des Schlafs: Die eine war ich, armer Secretarius, unfreiwillig ein Feind des Schlummers, die andere war der Statthalter.
Er stand neben mir und blickte durch das Fenster auf die blitzenden Strahlen, welche die zwischen den schwarzen Wolken am Himmel hervorscheinende Sonne auf die Erde warf. Die kurzen, sonnigen Abschnitte machten die Luft kristallklar, wie sie nur
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