Das Mysterium der Zeit
besudeln.«
»Die Sache ergibt keinerlei Sinn«, stimmte der Pariser Philologe zu. »Im Grunde ergibt überhaupt nichts Sinn, seit wir auf dieser verflixten Insel gestrandet sind«, schloss er, während er sich mit der Hand über die Augen fuhr, als hätte eine plötzliche Müdigkeit ihn überfallen.
Bei diesen Worten von Guyetus senkte sich ein bedeutungsvolles Schweigen unerbittlich wie ein Bahrtuch über uns. Ein Gefühl der Entfremdung bemächtigte sich unser, während unsere Blicke umherirrten und an dem unbekannten Wald hängenblieben, der uns umgab. Der Pariser Philologe tat einen verzweifelten Seufzer, Schoppe starrte gläsern und abwesend ins Leere, beide schienen plötzlich von derselben Kraft wie entleert.
Guyetus hatte recht: Als stolze Jäger kostbarer Handschriften waren sie aufgebrochen, um Philos Ptetès zu finden, jetzt sahen sie sich zerlumpt und erschöpft, frierend und verschmutzt, Schiffbrüchige, vom Schicksal gebeutelt, die Opfer von Piraten geworden waren und schon bald wieder gefangen genommen werden konnten, um ihre Tage in Ketten auf einer Galeere oder versklavt in den Barbareskenreichen zu verbringen. Die unveröffentlichten Handschriften, die der slawonische Mönch ihnen versprochen hatte, schienen unerreichbarer denn je. Stattdessen tauchten geheime Studien auf – eine veritable Kriegserklärung an die Vergangenheit! –, verfasst von einem vor fünf Jahren in Rom barbarisch ermordeten jungen Mann, kein Unbekannter, nein, Bouchard, ein alter Bekannter von einigen der Gruppe. Dieses unaufhörliche Suchen und Hoffen, dieses Finden von nicht Gesuchtem (was man vielleicht nie hätte finden wollen) betäubte die Geister, verzerrte die Zeit, hob die Wirklichkeit auf. Was war das alles, Hexerei womöglich?
»Gorgona … bedeutet auf Altgriechisch ›Sirene‹. Wir sind Gefangene dieses unheimlichen Meeresgeschöpfs«, murmelte Guyetus, wie zur Ergänzung meiner Überlegungen. »Auf dem Rettungsboot wusste Naudé noch nicht, wie prophetisch sein Zitat Dantes sein würde! Er hätte es vollständig zitieren müssen: ›Soll sich Capraia und Gorgona rühren, / Des Arnos Wasser an der Mündung stauen, / So daß er in dir jedermann ersäufe.‹ Unser Schicksal ist besiegelt, ich sage es euch. Wir |354| werden sterben, wenn nicht durch Ertrinken, dann am Hunger oder an der Kälte oder durch Wahnsinn! Ich hätte wirklich besser daran getan, zu Hause in Paris zu bleiben wie dieser schlaue Jesuitenpater Petavius, den der Brief des Mönchs nicht überzeugt hat. Und wer weiß, wen sonst noch. Nur du und ich«, schloss er, zu Schoppe gewandt, »sind dumm genug gewesen, anzubeißen.«
»Immerhin haben wir, was die Zauberei betrifft, nichts zu befürchten!«, versuchte ich zu scherzen. »Ist nicht Pasqualini unter uns? Er wurde Malagigi genannt wegen seiner Darstellung des Paladins mit Zauberkräften in dem Stück
Palazzo Incantato
des Meisters Luigi Rossi, wo es um Orlandos unglückliche Abenteuer im Schloss des Atlante geht.«
»Diese verfluchte, gottverlassene Insel ist unser Schloss des Atlante«, murrte Guyetus finster, »und wie die Paladine Karls des Großen irren wir dem Objekt unserer Begierden hinterher, werden es aber nie erreichen. Wie das verzauberte Schloss ist auch diese Insel nur ein Trugbild von Atlante, der den Rittern zeigt, was sie am meisten begehren. Wir werden hier nichts erreichen. Wir sind dazu verdammt, vergebens in sinnlosen Labyrinthen umherzuwandern!«
»Vergebliche Mühe ist das Schicksal der Sterblichen«, tönte Schoppe. »Umsonst laufen die Menschen mühevoll ihren Leidenschaften hinterher, es sind doch nur eitle Schatten.«
»Bravo! Sehr richtig!«, hörten wir hinter unserem Rücken ausrufen.
Beim Klang dieser unbekannten Stimme zuckte die ganze Gruppe zusammen, und einige, auch du, Atto, warfen sich sofort zu Boden und suchten einen Stein, einen Ast oder etwas anderes, mit dem sie uns vor dem unbekannten Eindringling verteidigen konnten. Alle Blicke richteten sich auf eine Stelle im Unterholz, aus der die Stimme gekommen war.
Hinter einem dichten Gebüsch traten drei Gestalten hervor. Ein Trio aus Männern mit langen schwarzen, stark gekräuselten Bärten und in verschlissenen, groben Kleidern. Die drei waren von ganz ähnlicher Statur, nur der letzte hinter den anderen beiden schien in gekrümmter Haltung zu stehen. Bei genauerem Hinsehen entdeckte man ein so übel verdrehtes Bein, dass die ganze Gestalt davon deformiert und zur Seite geneigt wurde.
»Was
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