Das Mysterium der Zeit
haben, bis alle verbrannt waren. Christliche Annalen, die ausführlich über die arabische Eroberung Alexandrias berichten, erwähnen die Verbrennung jedoch mit keinem Wort. Ebenso Dutzende arabischer Historiker, die etwas davon hätten wissen können und müssen.«
»Dann ist also auch dieses Zerstörungswerk nur eine Vermutung«, fasste ich zusammen. »Ob es womöglich zu den Hirngespinsten der Historiker gerechnet werden muss, wie die lange Liste, die Bouchard aufstellte?«
»Gemach, gemach«, wandte Guyetus sofort ein. »Wie du weißt, lieber Caspar, fürchte ich gewagte Thesen nicht! Aber wenn du wirklich glaubst, was du sagst, wie erklärt sich dann, dass die Werke vieler Autoren und Wissenschaftler in Alexandria entstanden? Ich nenne nur die Wichtigsten: die Mathematiker Euklid, Apollonius von Perge und Hipparchos von Nicäa; der Astronom Aristarchos von Samos; die Philologen Zenodotos, Aristophanes von Byzanz und Aristarch von Samothrake; die Dichter Kallimachos, Theokrit und Apollonius von Rhodos; die Philosophen Demetrios von Phaleron, Straton, Plotin und sein Schüler Porphyrios. Hältst du es für möglich, dass all diese genialen Männer in Alexandria ohne eine Bibliothek arbeiten konnten?«
»Vielleicht war es keine Bibliothek, sondern nur ein Bücherregal«, schlug der Verehrungswürdige vor. »Das griechische
biblos
bedeutet Buch, und
theke
ein Bord. Wörtlich bedeutet es also: ›Bücherbord‹ und nicht ›Saal voller Bücher‹. Habe ich recht?«
»Völlig«, bestätigte Guyetus.
»Siehst du. Und wenn wir zum Beispiel Strabos Beschreibung des Museion glauben wollen, erfahren wir, dass die
bibliothekai
sich nicht in einem eigenen Saal, sondern einfach in Borden befanden, die in einem überdachten Gang in die Wände gehauen wurden. Übrigens erzählt Aphthonius, dass auch die andere, sehr viel kleinere Bibliothek, die es in Alexandria gab, die im Serapeion, aus Bücherborden unter |352| Bogengängen bestand und dass alle, die gerne lasen, in diese Bücher hineinschauen durften, wenn sie vorübergingen. Die Bücher der großen Bibliothek standen also auch auf schlichten Borden in den Wänden, und es waren nicht viele tausend, sondern anfangs wahrscheinlich ein paar hundert, später mehr, aber niemals so ungeheure Mengen, wie uns weisgemacht wird. Und bedenkt, dass von der Bibliothek von Alexandria nicht das kleinste Steinchen gefunden wurde. Keiner, ob aus dem Altertum oder der Neuzeit, weiß genau, wo sie lag. Das Museion? Idem. Das Serapeion? Idem. Und der Leuchtturm auf der Insel vor der Stadt? Idem. Dabei waren das alles kolossale Bauwerke, wie die Historiker behaupten. Ist das nicht ein bisschen seltsam? Als alter Skeptiker glaube ich, dass vieles über Alexandria erfunden ist, beginnend mit der Bibliothek. Und jetzt höre ich auf, euch zu belästigen.«
Schweigend sannen wir über Schoppes Worte nach. Guyetus stocherte mit einem Zweig in der Glut, auf der vergeblichen Suche nach einer gerösteten Wurzel, die von den anderen übersehen worden war.
»Ich glaube zu verstehen, dass dieser ursprünglich spärliche Buchbestand des Altertums bestätigt, was Hardouin sagte«, überlegte ich laut, um das Schweigen zu brechen, »nämlich, dass die überlieferte antike Literatur gar nicht so ungeheuer viele Werke umfasst, wie man glaubte, sondern in einen Schrank passt.«
»O ja«, schlossest du dich mir nachdenklich an und fuhrst nach einer kleinen Pause fort: »Wenn über Alexandria wirklich so viel erfunden wurde, könnte es dann nicht auch für Rom und Athen gelten, wie Bouchards Liste nahelegt? Hat außer Bouchard sich jemals einer diese Frage gestellt? Oder hatte mein Lehrer Malagigi recht, als er bei unserem Gespräch über Lykurg sagte, dass die Philologen, statt Vorsicht walten zu lassen, alles so lange für echt halten, bis es als Fälschung bewiesen wird?«
»Ich stelle mir eine viel dringendere Frage«, erwiderte Schoppe, ohne dir zu antworten. »Was haben diese Papiere von Bouchard hier auf einer verlassenen Insel mitten im Meer der Toskana zu suchen?«
»Genau«, sagte Guyetus kopfschüttelnd, »zumal es ausgerechnet jene philologischen Studien zu sein scheinen, von denen Caspar uns erzählte, sie seien gleich nach Bouchards Tod verschwunden.«
|353| Schoppe nickte heftig. »Ich frage mich auch, warum diese Papiere hier und jetzt auftauchen, während bei Cassiano dal Pozzo nur ein Tagebuch mit Schweinereien landete, das zu nichts anderem dient, als das Andenken seines Autors zu
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