Das Mysterium der Zeit
Barbara gegenübersah.
In solcherart Phantasien versunken, schaute ich Kemal beim Häuten des Zickleins zu, als ein Gedanke unvermutet einen ganzen Horizont widerstreitender Überlegungen vor mir ausbreitete: Ganz gewiss hatte Barbara Strozzi nicht damit gerechnet, sich dir in so schmachvoller, schmerzlicher Lage, vor uns armen Geiseln und dem gesamten Piratengesindel bis aufs Blut auf die Hinterbacken gepeitscht, offenbaren zu müssen! Ein Zweifel nistete sich in meiner Seele ein: Hätte sie sich je enthüllt, wenn sie nicht das Opfer von Alis Grausamkeit geworden wäre? Hatte die Strozzi womöglich geplant, die ganze Reise über unentdeckt zu bleiben?
Die erotischen Provokationen, mit denen sie dich von Beginn an herausgefordert hatte, schienen zu beweisen, dass sie sich früher oder später offenbart hätte. Da sie sich nicht sicher sein konnte, die ganze Reise über unentdeckt zu bleiben, brauchte sie einen Freund, der ihr half, ihre wahre Identität zu verbergen, und in dir und Malagigi hatte sie deren zwei gefunden.
Es war zwecklos, euch beide in die Enge zu treiben, um mehr zu erfahren. Die allzu naheliegende Erklärung, die ich bekommen hätte, nämlich dass sie sich als Kastrat verkleidet hatte, um dich ungestört lieben zu können, wurde haltlos angesichts der Leichtigkeit, mit der das Weib mich und den Statthalter von Ali Ferrarese verführt hatte. Natürlich sah man, dass sie dich gernhatte, in der Höhle im Wald hatte sie es mir selbst offenherzig gestanden, nachdem sie mich besessen hatte. Aber sie hatte nicht wissen können, ob sie die Überfahrt zusammen mit dir machen würde, denn die Musiker waren auf mehrere Galeeren der französischen Marine verteilt worden.
Was hatte Barbara Strozzi also bewogen, ihre Kinder zu verlassen, um sich unter falschem Namen nach Frankreich einzuschiffen? Wenn diese Frau wirklich zu Mazarins Aufgebot der besten Stimmen Italiens gehörte, warum machte sie dann die Reise als Kastrat maskiert? Und warum hatte sie sich anderen Männern hingegeben? Bei Kemal konnte ich es verstehen: Der Korsar hatte entdeckt, dass sie eine Frau war, und sie wollte ihn zu ihrem Komplizen machen. Aber warum hatte sie sich auch mir geschenkt, nein, mich vielmehr mit Hilfe von Trug und Gewalt besessen? Mir fehlten zu viele Hinweise, um diese |415| Fragen zu beantworten. Noch war ich weit davon entfernt, genug zu wissen, um dieses unheilvolle Weib zu verstehen!
In einzelnen Grüppchen aßen wir den von Kemal zubereiteten Ziegenbraten. Er brummte fortwährend, weil Mustafa noch immer nicht zurückgekehrt war. Vielleicht hatte ihn das starke Gewitter gehindert, das gleich nach unserer Rückkehr in die Torre Vecchia ausgebrochen war.
Nach der Mahlzeit erklärten die Gelehrten unseren bärtigen Gästen, es sei ihnen eine Ehre, sie zu ihrem Haus zu begleiten. Tatsächlich lockte sie nicht nur die Aussicht, unter den dreien den slawonischen Mönch zu entdecken, sondern auch eine Erkundung jener Gegend, die Nummer Drei die Piana dei Morti genannt hatte, wo sich womöglich weitere Schätze verbargen. Wir anderen konnten uns nur anschließen, jeder aus seinen eigenen Gründen: du und ich, weil Naudé uns erpresste, er werde Kardinal Mazarin Schlechtes über uns berichten, wenn wir ihm nicht halfen; Malagigi und Barbello, oder besser Barbara, weil sie in der Minderheit waren, und schließlich Kemal, der zwar unser Gefangener war, aber doch überaus willfährig und trotz seiner unsäglichen Rohheit sogar neugierig auf Philos Ptetès.
Der Fund eines Teils des
Satyricon
war ein unvergleichlicher Erfolg, doch wer weiß, was wir noch alles entdecken würden? Wenn die drei einen solchen Schatz in einem schlichten Reisesack aufbewahrten, was mochte sich dann erst unter dem Bett oder in irgendeinem Schrank verbergen? Die Liste der Meisterwerke, die Philos Ptetès in seinem berühmten Brief an die Pariser Gelehrten in Aussicht gestellt hatte, war atemberaubend, und der Petronius war sicherlich erst der Anfang.
Mit Bitten und Schmeicheleien überredeten wir die drei Insulaner, uns zu ihrem Haus zu führen. Als Grund nannten wir Neugierde und die Notwendigkeit, unsere Speisekammer mit Lebensmitteln zu füllen, welche wir mit klingender Münze bezahlen könnten, was freilich gelogen war.
Der Schultersack der drei Bärtigen, in dem sich der unschätzbar wertvolle Petronius befand, wurde von dem ganzen Quartett der Gelehrten keine Sekunde lang aus den Augen gelassen, als hinge unser Überleben davon
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