Das Mysterium der Zeit
ab.
»Gewissenlose Irre!«, hörte ich Schoppe leise schimpfen. »Diese einzigartigen Papiere hin und her zu schleppen! Aber es ist besser so.«
|416| »Von wegen Irre! Betrüger sind das!«, zischte Guyetus.
Bevor wir aufbrachen, kehrte Kemal zurück.
»Oh, ihr Landratten, wo habt ihr bloß euren Kopf!«, sagte er wütend. »Habt ihr nichts bemerkt? Mustafa ist verschwunden, er fehlt seit Stunden. Wahrscheinlich macht er irgendwelche Dummheiten auf der Insel. Wenn ich ihn finde, bringe ich ihn um, diesen Idioten!«
Dann wandte er sich leise an Schoppe und mich:
»Ist einer von den dreien nun Philos Ptetès oder nicht?«
»Das würden wir auch gerne wissen«, antwortete der Verehrungswürdige.
»Ihr wisst es noch immer nicht? Ich an eurer Stelle hätte sie schon längst in Ketten gelegt, und ich versichere euch, sie hätten sofort geredet«, bemerkte der Barbareske ungeduldig.
Schoppe und ich blickten uns erstaunt an. Sogar der Korsar, dem philologische Funde doch herzlich gleichgültig waren, schien das alberne Versteckspiel mit den dreien satt zu haben.
Da tauchte auch dein falscher Barbello auf, und an der zerstreuten Miene, mit der du erst sie und dann den Barbaresken betrachtetest, erkannte ich, dass du nichts von dem Geschehen zwischen den beiden ahntest. »Umso besser, umso schlimmer«, sagte ich mir. Deine zarte Jugend, im Verein mit deiner leider gründlichen Unkenntnis des weiblichen Wesens, hatte dir die Augen verschlossen. Und das war gut so, da du sie vielleicht niemals wirklich öffnen würdest, wie es sich wiederum für das wahre männliche Wesen gehört.
DISKURS LIX
Darin man unterwegs keine Spur von Mustafa findet, aber einer der drei Autochthonen zeigt, dass er wahrscheinlich der echte Philos Ptetès ist.
Als ungeordneter, verstreuter Haufen setzten wir uns in Marsch. Zahllos waren die Bächlein, in die sich der Fluss der Blicke und Gedanken in unserer Gruppe während der Wanderung verzweigte.
Kemal trug den alten Schoppe auf dem Rücken, doch er achtete nicht auf den Rest der Truppe, denn er blickte sich fortwährend fluchend um und suchte nach Spuren seines Gefährten. Direkt vor uns |417| führten die drei Landmänner den Zug mit noch immer schlaftrunkenen Gesichtern und ebenso monotonem wie tadellosem Marschschritt an. Die Gedanken der anderen konnte ich mir gut vorstellen: War es möglich, dass sich unter diesen drei schmutzigen Vogelscheuchen Philos Ptetès verbarg? Immerhin waren das Gastmahl des Trimalchio und Bouchards Aufzeichnungen aus ihrer Tasche hervorgekommen! Wenn sich der slawonische Mönch, ein offenbar begnadeter Schauspieler, nicht unter diesen zerzausten Gesellen verbarg, wo hatten sie dann diese unschätzbar wertvollen Papiere aufgetrieben?
Ich musterte dich unauffällig. Was dir auf der Seele brannte, das sah ich deutlich, war nicht der Verdacht auf mögliche erotische Tändeleien zwischen deinem falschen Barbello und dem robusten Statthalter, sondern ein alter Kummer: Die Lektüre des
Satyricon
und der Bericht über seine satirische Darstellung der Sodomie hatte in dir jenen entsetzlichen Zweikampf wachgerufen zwischen dem von Gott und der Natur gewollten Atto Melani (also dem Mann, der du hättest sein können und der du nur manchmal, im intimen Beisammensein mit Barbara, wirklich warst) und dem verstümmelten Atto Melani, den du hasstest, der dir jedoch deinen Platz in der Welt verschafft hatte. Hattest du nicht genau gehört, was im
Satyricon
geschah? Die Männerliebe siegte erdrückend, auf ganzer Linie. Natürlich war es nur ein Roman, aber er erzählte von der Wirklichkeit, hatte Schoppe gesagt. Das künstliche Ich, das man dir in einer Wanne mit kochendem Wasser durch ein paar Schnitte verpasst hatte, das Lust bereiten und Vergünstigungen entgegennehmen sollte, saß dir schmerzhaft im Nacken wie ein kaltes Reptil.
Und ich überlegte: Das Geschehen, in das wir auf dieser Insel verstrickt waren, hatte zwei Lebensadern. Die eine war warmes Fleisch: deine unbezwingliche Liebe zu Frauen, unter denen du ungeduldig diejenige suchtest, der du für immer dein Herz schenken konntest, freilich als ein Liebender, der vielleicht nie wiedergeliebt wurde.
Die andere Ader bestand aus den eiskalten Begierden der Gelehrten, es war die Suche nach den geheimnisvollen Handschriften von Philos Ptetès. Im
Satyricon
, dem überwältigenden Lobpreis der Sinnlichkeit, des Daseins als Mann oder als Eunuch, liefen die beiden Adern zusammen. Diese Insel spielte wahrhaftig mit
Weitere Kostenlose Bücher