Das Mysterium der Zeit
um sicher zu sein, dass die Gruppe in den Tiefschlaf gesunken war, hörte ich plötzlich ein Knirschen auf dem Gang und rasche Schritte.
»Schon wieder Kemal und Barbara«, dachte ich.
Ich warf einen Blick auf deinen jungen Brustkorb, der sich langsam und ruhig unter der Decke hob und senkte. Gott sei Dank schliefst du. Auf Zehenspitzen verließ ich das Zimmer und schlich die Treppe zum Erdgeschoss hinunter, wo ich mich durch die Finsternis tastete, immer in Gefahr, gegen einen Türrahmen zu stoßen. Schließlich stand ich vor der Küche.
Vor dem Eingang hing ein Vorhang. Doch jemand, der vor mir gekommen war, lüftete ihn schon leicht, um ins Innere zu spähen – es war ohne jeden Zweifel Gabriel Naudé.
Mit angehaltenem Atem näherte ich mich so weit, dass ich selbst hineinsehen konnte, ohne von dem Bibliothekar entdeckt zu werden. Das Erste, was ich sah, war eine leuchtende Scheibe.
Es war der soeben am Horizont aufgegangene Mond, dessen silberner Schein, klar wie Quellwasser, die Finsternis im Hausinneren aufriss. Vor dem Fenster, durch das dieser helle, sternenfarbene Lichtstrom fiel, hatten zwei Gestalten sich zu einer einzigen vereint.
Zwischen den Beinen deines falschen Barbello war das Gesicht ihres vor ihm knienden Komplizen eifrig damit beschäftigt, Wonnen zu bereiten, während er sich weiter unten selbst Lust verschaffte. Derweil unterhielten die beiden sich leise, als wäre nichts dabei. Es war dies |469| eines jener subtilen Duelle, wie Liebende mit phantasievollem Ingenium sie ad hoc ersinnen: Beide geben sich eiskalt und täuschen dem anderen vor, endlos so weitermachen zu können, wie ein für die Wonnen des Geliebten geschaffener, erbarmungsloser Automat. Und gerade dadurch zwingen sie ihn, unter der süßen Bürde einer vervielfachten Lust endlich nachzugeben.
Naudé beobachtete alles hinter dem Vorhang, sein Atem ging schnell wie der eines unerfahrenen Jünglings. Mein Herz machte einen Sprung: Jetzt würde er entdecken, dass Barbello eine Frau war! Ihr Schicksal war mir egal, ich hasste sie dafür, dass sie mich gezwungen hatte, meine Gemahlin zu betrügen, doch sorgte ich mich deinetwegen. Was würde aus deiner vielversprechenden Karriere werden, wenn der Päderast Naudé den Medici, deinen Herren und ebenfalls Päderasten, verriet, dass du eine Frau liebtest, was Kastraten verboten war? Wie verrückt irrte mein Blick zwischen dem Profil des Bibliothekars und den beiden Liebenden in der Küche hin und her. Noch hatte Naudé Barbaras nackte Scham zum Glück nicht erblicken können, und die üppigen Brüste dieses gefährlichen Weibes waren von den trügerischen Binden noch fest umwickelt. Doch was würde geschehen, wenn die Liebenden sich, nachdem sie wie Gewitterwolken Blitze erzeugt und Regen hatten herabströmen lassen, zuletzt voneinander trennten?
»Das hätte ich früher machen sollen …«, stöhnte dein falscher Barbello derweil bebend.
Der andere lachte, nein, er murmelte leise, um sich noch ein wenig zurückzuhalten. »Vielleicht hätte ich auch darauf kommen können, oder?«, sagte er dann.
»Ja … ich glaube ja …«, antworte Barbara lachend.
Flink wie eine Eidechse zog ich mich zurück, denn Naudé entfernte sich nervös von seinem Beobachterposten. Mir fiel ein, dass der schwule Bibliothekar für die Reize des vermeintlichen Kastraten empfänglich gewesen war, als dieser ihn nach dem Unfall auf den Ruinen des Hauses von Nummer Drei verarztet hatte.
Naudés Eifersucht rettete die Strozzi nun davor, ihr Geheimnis zu verraten und dich ins Unglück zu stürzen. Ich wartete, dass Naudé sich wieder hinlegte, dann würde auch ich zurückkehren. Doch er ging nicht schlafen, sondern begab sich in ein leeres Zimmer, und ich hörte, wie er sich in der dunklen Kälte ebenfalls ein einsames Vergnügen |470| verschaffte, eintönig jedoch und ganz anders als jenes, dem sich der Geliebte Barbellos leidenschaftlich hingab.
Ich nutzte diesen Moment, um in das leere Zimmer zu flitzen und Barbaras Sack zu untersuchen. Den weichen Inhalt spürte ich sofort, es musste sich also um Stoff handeln. Ich betastete etwas mit den Fingern, was ich nicht identifizieren konnte. Wäre es nicht so seltsam gewesen, hätte ich gesagt, dass es wirklich etwas Ähnliches wie Leder zu sein schien, freilich vertrocknet und narbig an der Oberfläche. Sollte der falsche Kastrat den Korsaren die Wahrheit gesagt haben? Waren wirklich nur Kleider aus Leder in diesem Sack? Andererseits konnte ich mir nur schwer
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