Das Mysterium der Zeit
kennt die
scheinbaren
Gesetze des menschlichen Körpers, aber es gibt keinen absoluten Beweis, dass sie auch sein wirkliches Wesen sind. Wieder verwechselt Ihr das wahre Sein der Dinge und die einfache Übereinstimmung sichtbarer Phänomene mit einer Theorie, Signor Secretarius. Ganz zu schweigen von all den Theorien, die für unumstößlich gehalten wurden und sich im Lauf der |481| Zeit als irrig herausgestellt haben! Wie viele Menschen wurden von Ärzten und Chirurgen aufgrund falscher Theorien umgebracht!«
Ich senkte die Augen im Bemühen, ein Beispiel zu finden, dass meine Argumente stützen konnte. Aber ich fand keines.
»Eigentlich wollte ich Euch nur davor warnen, den Standpunkt Urbans VIII. zu belächeln, wie Galileo es tat«, kam mein Gesprächspartner mir großzügig zu Hilfe. »Was Ihr billige Theologie für alte Marktweiber genannt habt, sind Prinzipien, die nicht auf irgendeinen Heiligen aus frühchristlicher Zeit, sondern auf die großen Philosophen des alten Griechenland zurückgehen.«
»Haltet den Mund, verflucht! Und bleibt stehen!«
Kemal befahl uns, innezuhalten. Wir hatten ein gutes Stück des Waldes durchquert, ohne auf Hindernisse oder Gefahren zu stoßen, doch jetzt kam dem Barbaresken etwas verdächtig vor.
Wir blickten einander an und senkten unwillkürlich die Fackeln. Einige Minuten warteten wir schweigend, bis Kemals angespannte Züge sich in einem Lächeln lösten.
Hinter einem Bäumchen war ein großer, krähenähnlicher Vogel mit einem kleinen Reptil im Schnabel aufgetaucht.
»Ich dachte, jemand würde uns verfolgen. Ich werde wohl alt«, bemerkte der Korsar. »Redet weiter, aber verausgabt euch nicht zu sehr. Ihr werdet all eure Kräfte für das Boot brauchen.«
DIALOG
Darin bewiesen wird, wie die menschliche Erkenntnis sich im Lauf der Jahrhunderte nicht etwa verbessert, sondern verschlechtert.
Hardouin hub wieder an: »Ich wiederhole, mein Freund, dass ich mich nicht als Philosoph aufspielen will. Doch ich sehe, dass Ihr diesem Thema auf den Grund gehen wollt, darum sage ich Euch, dass die Ideen des Papstes und Galileos, die einander so heftig widerstritten und zu dem berühmten Widerruf Galileos führten, nicht verstanden werden können, ohne auf ihre Wurzeln zurückzugehen: auf die beiden berühmtesten Philosophen aller Zeiten, Platon und Aristoteles.«
|482| Nach Platon, erklärte er, dürfe man nur den astronomischen Theorien glauben, die mit dem übereinstimmen, was die Planeten unseren Augen zeigen. Der Zweck der Astronomie sei ebenso wichtig wie praktisch: die Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – messen zu können, indem man die Planetenbewegung vorhersieht. Der Astronom müsse laut Platon einfache, messbare Bewegungen wie zum Beispiel die gleichbleibend kreisförmigen oder die elliptischen und epizyklischen Bewegungen zusammenstellen, um einen Bewegungsablauf zu berechnen, der der höchst komplizierten Bewegung der Gestirne ähnelt, welche in ihrer Gesamtheit jedoch von keiner Formel je erfasst werden kann und für den Menschen unerkennbar bleibt.
»
Sozéin ta phainòmena
, sagte Platon, nur das ist wichtig: die Erscheinungen retten!«
»Wollt Ihr damit etwa sagen, dass die berühmten griechischen Philosophen sich nicht für das wirkliche Sein der Dinge interessierten?«
»Genau! Es ist nicht Sinn und Zweck menschlichen Forschens zu entdecken, ob die Erde sich um die Sonne dreht oder umgekehrt, sondern nur, ein Rechensystem zu finden, mit dem vernünftige Vorhersagen zu praktischen Zwecken getroffen werden können. Wie ich schon sagte: Wir nennen es Astronomie, aber in Wirklichkeit handelt es sich um reine Chronologie oder besser Chrono-nomie, also die Wissenschaft davon, die Zeit Gesetzen zu unterwerfen. So dachte nicht nur der große Platon, sondern auch weniger bedeutende Denker wie Poseidonios oder Herakleides Pontikos. Sehr wenige lehnten diese Ideen ab, wie Adrastos von Aphrodisia oder Theon von Smyrna, und ihre Namen sind zu Recht vergessen.«
»Ihr müsst entschuldigen«, sagte ich, »ich kenne nicht alle Philosophen, von denen Ihr sprecht. Doch ich weiß, dass Galileo etwas sehr einfaches sagte: In der Geometrie entspricht dem Widersinn eines Satzes die Genauigkeit des gegenteiligen Satzes. Wenn sich von zwei entgegengesetzten Systemen eines als falsch herausstellt, muss das andere richtig sein.«
»Eine sehr einfache Regel, das stimmt. Doch Caspar Schoppe hat heute richtig gesagt: allzu einfache Methoden finden aufgrund ihrer
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