Das Mysterium der Zeit
Fängen der Justiz zu entgehen.«
»Dann sind sie also Diebe, wenn ich recht verstanden habe«, fragte ich.
»Diebe, genau, sie haben alles gestohlen, was ihnen unter die Finger kam!«
»Wahrscheinlich auch hier auf der Insel und von Euch auch, habe ich recht?«
»Und ob! Diese Schweine haben mich fast ausgeplündert, und das mehr als einmal!«
»Als wir sie trafen, trug einer von ihnen eine große Tasche über der Schulter. Voller Papiere.«
|519| »Das war meine Tasche, verflucht! Sie war mir sehr wichtig! Wenn ich die Kerle erwische, bringe ich sie um.«
»Das wird dir kaum gelingen«, versetzte der Dickwanst. »Du weißt, dass sie die Insel besser kennen als ich, der Kommissar.«
Der Dicke erzählte sodann, er sei vor etwa zwölf Jahren durch ein Dekret des Großherzogs der Toskana persönlich zum großherzoglichen Kommissar für die Verwaltung Gorgonas ernannt worden. Er habe treue Dienste geleistet, bis der Großherzog verfügte, dass das Personal auf der Insel aus Kostengründen zu verringern sei. Da er keine Familie und keine andere Arbeitsmöglichkeit habe (in den zwölf Jahren Abwesenheit hatte er alle Bindungen an das Festland verloren) und außerdem für nicht näher bezeichnete »Quälgeister« (unter denen wir uns leicht Gläubiger oder Häscher vorstellen konnten) unerreichbar bleiben wollte, hatte der ehemalige Kommissar von Gorgona beschlossen, auf der Insel zu bleiben, wo das Leben ohne jede Ablenkung und unnütze Ausgaben sowie seine Ersparnisse ihm erlaubten, ohne Arbeit zu überleben.
»Und Ihr?«, fragte Naudé den Mann mit den blauen Augen.
»Oh nein!«, lachte er. »Ich bin hiergeblieben, um die Brücken zur Vergangenheit abzubrechen! Nennt mich Zweiunddreißig wie die drei Verrückten!«
»Hier stimmt etwas nicht«, flüsterte ich dem Bibliothekar ins Ohr. »Die Tasche. Die Tasche mit dem
Satyricon
gehörte ihm! Habt Ihr denn noch nicht begriffen, wer das ist?«
Naudé zuckte zusammen wie von einem Skorpion gestochen. Meine Worte setzten ihn auf glühende Kohlen. Er starrte mich mit gierigen Augen an. Also erfüllte ich ihm den Wunsch nach Aufklärung und fragte:
»Die werten Signori haben schon gehört, dass wir nicht zufällig auf dieser entlegenen Insel im Toskanischen Meer gelandet sind. Wir suchen einen slowenischen Mönch, einen gewissen Philos Ptetès, der vor zwei Jahren hier von Bord eines Schiffes ging und von einer Schlange gebissen wurde«, sagte ich mit einem breiten Lächeln und ließ eine höfliche Verbeugung folgen. »Ich denke, wir sind am Ende unserer Suche angekommen, nicht wahr?«, fragte ich mit zunehmender Betonung. »Irre ich oder haben wir die Ehre, mit Philos Ptetès zu sprechen?«
Der Mann tat einen langen, ergebenen Seufzer.
»Persönlich«, gestand er, mein gewinnendes Lächeln erwidernd. |520| Dann breitete er die Arme aus, als wollte er sagen: »Nun gut, Ihr habt mich entdeckt.«
Nie werde ich den blöden Gesichtsausdruck Naudés vergessen und seinen Blick, der unaufhörlich zwischen mir und Philos Ptetès hin- und herirrte. Fast hätte er mich gefragt, ob das womöglich ein gemeinsam ausgeheckter Scherz war, so fassungslos stand er vor dem lang ersehnten, plötzlich Wirklichkeit gewordenen Ereignis. Zum dritten Mal innerhalb weniger Stunden war die Hoffnung, endlich ans Ziel seiner mühevollen Suche gekommen zu sein, in greifbare Nähe gerückt. Nach dem Verschwinden der drei Bärtigen und mit ihnen des
Satyricon
hatte die letzte Nacht ihm die tiefe Enttäuschung bereitet, statt Philos Ptetès und des Schatzes von Poggio Bracciolini nur einen armen Toten zu finden, den die Schwägerin zu einem solchen gemacht hatte.
Am Ende seines stürmischen Gedankenaufruhrs angelangt, zog Naudé es vor, ohne weitere Fragen zur Sache zu kommen. Mit einer vor Aufregung vom Schweiße triefenden Stirn, mit zitternden Händen und bebender Stimme stellte er sich in einem einzigen Atemzug als Bibliothekar von Kardinal Mazarin, Gelehrter, Philologe, Historiker, Literat, Dichter, Übersetzer von Klassikern vor. Er konnte es kaum glauben, das Objekt seiner Begierde ebenso wie der seiner verhassten Kollegen ganz allein für sich zu haben.
»Ich habe, in aller Bescheidenheit, das Glück, von den Verwandten der Herrscher aller Länder empfangen zu werden«, stammelte Naudé und zählte Philos Ptetès flugs seine Verdienste auf: »Überall wird mir die größte Freiheit eingeräumt, nach Belieben öffentliche und private, kirchliche und staatliche Bibliotheken zu
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