Das Mysterium der Zeit
es von einem Ordensbruder erwarten würde. »Das Wildschwein gehört Euch, und Gott segne Euch!«
Wir gingen zurück, ohne ein Wort zu sprechen. Naudés Schweigen war besonders hoffnungsschwanger und man sah schon von weitem, dass er aus Angst, alles zu verderben, nicht die leiseste Bemerkung wagte.
Wir kamen zu dem toten Wildschwein, banden seine Beine um einen starken Ast und kehrten so zur Piana dei Morti zurück. Ich sah, wie Naudé gedankenverloren die tödliche Wunde im Kopf des Tieres betrachtete. Außergewöhnlicher Mann, dieser Philos Ptetès, schien er zu denken. Wenn alles gutging, würde er Naudé nicht nur mit diesem gezielten Musketenschuss das Leben gerettet haben, sondern ihm auch Ruhm und Ehre verschaffen.
Unsere triumphale Rückkehr wurde von unseren Leidensgefährten |523| gebührend gefeiert. Sie waren höchst erleichtert, uns in Gesellschaft eines fetten Wildschweins zu sehen, nachdem die ersten beiden Jagden mit einer Beute aus Fledermäusen und als Hasen ausgegebenen Wildkatzen geendet hatten.
Wir verbrachten den Nachmittag damit, auf Kemals Rat hin ein großes Feuer aus Stroh und Stoppeln zu entfachen, um die üppigen Reste des Wildschweins zu räuchern. Das Tier hatte sich nämlich als nahezu ungenießbar erwiesen: frisches Fleisch vom Wildschwein war zu hart. Es musste abhängen, erklärte Kemal, um weich zu werden. Darüber würden einige Tage vergehen, und so waren wir vorerst wieder ohne Lebensmittel.
Das Gros der Arbeit fiel auf dich, Malagigi und Kemal, die Einzigen, die vom vergangenen Tag nicht zu Tode erschöpft waren. Außer den beiden Alten, Schoppe und Guyetus, die ohnehin kaum mehr Kräfte hatten, war der Rest unserer Mannschaft nicht mehr zu gebrauchen: Naudé wegen der Jagd auf das Wildschwein, Barbara und Hardouin wegen des nächtlichen Abenteuers mit dem Boot, meine Wenigkeit, weil ich an beiden Expeditionen teilgenommen hatte. Wir legten uns daher zeitig schlafen, unterstützt vom frühen Sonnenuntergang im Dezember.
Hardouin bedeutete mir vor dem Einschlafen, dass wir wenig Zeit zum Ausruhen haben würden: noch vor dem Morgengrauen würden wir heimlich das mittlerweile getrocknete Boot besteigen, um den Hafen von Livorno zu erreichen und das französische Konsulat um Hilfe zu bitten.
Hardouin wusste noch nicht, dass er die ersehnte Ausfahrt würde verschieben müssen.
DISKURS LXXIX
Darin man mit einer bösen Überraschung erwacht.
»Seht Euch das an!«
Ich rieb mir die Augen im Halbdunkel, das die Kerze in der Hand des Buchhändlers nur schwach erleuchtete. Mit der anderen Hand |524| reichte Hardouin mir einen Fetzen Papier. Es war ein Brief von Guyetus, in Großbuchstaben geschrieben:
DIE NIEDERLAGE IST TOTAL UND ENDGÜLTIG. ALL UNSERE BEMÜHUNGEN SIND VERGEBENS.
ZWECKLOS AUF DIESEM WEG WEITERZUGEHEN. ICH SCHLAGE EINEN ANDEREN EIN, FÜR IMMER. NUR MEINE EHRE SOLL UNANGETASTET BLEIBEN.
ICH VERGEBE ALLEN, FREUNDEN UND FEINDEN. GUYETUS DIESER UNFLÄTIGE JESUIT PETAVIUS
HATTE RECHT, ZU HAUSE ZU BLEIBEN.
Dieses Mal war es nicht das (sozusagen) übliche Fragment des Petronius oder ein weiteres Bekenntnis von Bouchard. Dies war eindeutig die Ankündigung eines Selbstmordes. Das verhexte Schloss des Zauberers Atlante hatte über Guyetus Seele obsiegt.
»Ich habe den Zettel neben mir gefunden«, sagte Hardouin, »und bin sofort zu seinem Lager gelaufen, doch es war leer.«
»Und dann?«, fragte ich.
»Er ist verschwunden!«, rief Hardouin aus und ging, Kemal und Malagigi aus dem Schlaf zu rütteln.
Der Abschiedsbrief gab nicht viel Anlass zur Hoffnung. Während die Sonne am Horizont aufstieg, wurde eine gründliche Suche in und außerhalb unseres Refugiums organisiert. Doch von Guyetus fand sich keine Spur. Die Gesellschaft stürzte in die schwärzeste Verzweiflung. Keine Frage: Der auf diesen wenigen Zeilen angekündigte Selbstmord musste sich im Dunkel der Nacht ereignet haben. Die Klippen von Gorgona boten unendlich viele Möglichkeiten.
Wir fanden uns alle in dem Raum wieder, in dem ich geschlafen hatte, und so konnte ich die Ankündigung machen:
»Signori, es gibt etwas, was ich Euch jetzt, wie ich meine, kundgeben darf.« Alle blickten mich fragend an. Ich spürte, dass mein Gewissen mir diesen Schritt erlaubte und fuhr fort.
»Vor wenigen Stunden, mitten in der Nacht, hat der arme Guyetus mir ein Geständnis gemacht. Im Lichte dessen, was geschehen ist, glaube ich von der Pflicht zur Geheimhaltung entbunden zu sein und euch die letzten Worte
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