Das Mysterium der Zeit
und das geschah sehr oft. Er sagte immer öfter, dass die antiken Historiker Lügner, nein, Gotteslästerer seien. Ich verstand nicht recht, was er damit meinte, und um die Wahrheit zu sagen, es interessierte mich auch nicht besonders, waren es doch eindeutig Phantasien einer gemarterten und verwirrten Seele. Er legte lange Listen an mit Dingen, die die |555| Historiker des Altertums geschrieben hatten und die seiner Meinung nach weder möglich noch wahrscheinlich waren. Armer Bouchard, mit welchen Spinnereien vergeudete er manchmal seine Zeit!«
Ich kannte diese Listen. Sie waren in den Aufzeichnungen enthalten, die Naudé selbst im Haus von Nummer Drei gefunden hatte. Ich hatte die Zusammenfassung gemeinsam mit Mazarins Bibliothekar überflogen, und am nächsten Morgen im Wald hatte ich zusammen mit Schoppe, Guyetus und Hardouin den ganzen Text gelesen.
»Eines Tages ging ich ihn im Palazzo della Cancelleria besuchen«, fuhr Naudé fort, »und er ließ mir fast keine Zeit, mich hinzusetzen, so sehr brannte ihm auf der Seele, was er mir sagen wollte.«
»Monsire Naudé«, kam ich ihm zuvor, »Ihr müsst Euch nicht verpflichtet fühlen, Euch zu rechtfertigen, insonderheit nicht vor mir und Signorino Atto. Wir hatten nie die Absicht, Euch Böses zu unterstellen.«
»Das stimmt, Monsire Naudé«, setztest du nach, »wir können Euch versichern, dass …«
»Lasst mich erzählen, was Bouchard mir damals sagte«, bat der Bibliothekar.
Wir Starken Geister, hatte Bouchard in jenen, nunmehr fünf Jahre zurückliegenden Tagen zu Naudé gesagt, brüsten uns damit, dass wir auf die Märchen der Priester, der Abergläubischen, der Heuchler, die aus Eigennutz predigen, nicht hereinfallen. Wir haben das griechische und lateinische Altertum zu unserem idealen Reich erhoben, weil wir dort, auf den Weiden der Philologie, im Olymp der großen Geister, der so befreiend anders ist als unsere armselige, von Religion und Bigotterie vergiftete Gegenwart, frei umherschweifen können und nur ein einziges Reittier brauchen: unsere Vernunft. Um es anzuspornen, haben wir die Peitsche des Skeptizismus, als heilige Schrift halten wir die kostbaren Handschriften antiker Autoren, die uns die Antike überlieferte, unter dem Arm. Epikur, der Hedonist, hat uns das gute Leben gelehrt, die Stoiker, wie Seneca, haben uns im guten Sterben unterwiesen und uns gezeigt, wie wir freiwillig in den Tod gehen können, wenn die Ehre es erfordert. Die Sophisten haben uns beigebracht, die Argumente anderer zu sezieren, um das Wahre und Falsche zu unterscheiden. In der Gelehrtenrepublik sind wir alle gleich, jeder ist König und Untertan in einem, bewaffnet nur mit dem scharfen Schwert der Vernunft.
|556| Also kannst auch du, Gabriel Naudé, so hatte Bouchard gesagt, genauso gut sehen wie ich, was wahr oder falsch, vollständig oder lückenhaft ist, und wir müssen dafür keinen Glauben bemühen. Meinst du nicht auch, dass diesen Historikern fernster Epochen, diesen sonderbaren Berossos und Manetho, diesen Vätern der ältesten Antike, mit demselben Misstrauen begegnet werden muss, das wir den Märchen der Frömmler entgegenbringen?
Erscheint es dir nicht auch ein wenig seltsam, dass uns nur Autoren überliefert sind, die bei anderen Autoren über Berossos und Manetho gelesen haben, welche wiederum nur indirekt von ihnen wussten? Findest du es nicht verwunderlich, dass weder von den beiden selbst noch von den späteren Autoren, die ihre Schriften in Händen gehalten haben wollen, auch nur eine einzige Seite überliefert ist? Und hältst du die Dinge, die Berossos und Manetho berichtet haben sollen, nicht auch für aberwitzig? Zu guter Letzt: Siehst du nicht, dass die Berichte von Herodot, Livius, Plutarch, Cicero, Valerius Maximus, Plinius und Tacitus mit jenen Lügen gespickt sind, die ich Gotteslästerungen nenne?
DISKURS LXXXV
Darin Gabriel Naudé erzählt, was er Bouchard auf seine Zweifel antwortete, und man einem erstaunlichen Phänomen beiwohnt.
Bouchards Offenheit hatte Naudé überrascht, da er auf so ernste Diskussionen nicht gefasst war. Dennoch antwortete er mit einer Fülle an Argumenten: Wie Bouchard selbst wisse, hatte unter den Starken Geistern eine Strömung Fuß gefasst, die sich die Pyrrhonisten nannten. Ihr Name leitete sich von dem griechischen Philosophen Pyrrhon ab, der behauptete, dass die Vergangenheit unerkennbar sei. Hör mir gut zu, Bouchard, mein Freund, hatte Naudé ihn ermahnt, erinnere dich an die Fragen Pyrrhons und an
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