Das Mysterium der Zeit
seine einzige Antwort: Wie sind die Dinge beschaffen? Wie sind wir mit ihnen verbunden? Wie müssen wir uns ihnen gegenüber verhalten? Die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Die Wahrheit ist, dass wir nur sehen, wie die Dinge uns erscheinen, über ihr wahres Wesen können wir jedoch nicht Gewisses |557| sagen. Gewissheit gibt es über gar nichts, nicht einmal, ob du und ich in diesem Zimmer miteinander reden. Und da sollen wir die historische Wahrheit erkennen können?
»Eine Frage bitte, Monsire Naudé«, unterbrachst du ihn. »War dieser Pyrrhon ein Christ?«
»Wie denn? Er lebte drei Jahrhunderte vor Christus.«
»Vergebt mir meine naive Frage«, verteidigtest du dich. »Doch das Denken dieses Pyrrhon scheint mir exakt auf das anwendbar zu sein, was Papst Urban VIII. immer zu Galilei sagte, wenn dieser darauf bestand, seine Beobachtungen durch das Fernrohr für absolute Wahrheiten zu erklären. Ich frage mich: Wenn die Starken Geister wirklich so dachten wie Pyrrhon, gaben sie dem Papst doch gegen Galileo Recht, oder?«
»Das hat doch gar nichts miteinander zu tun! Ich rede über meinen armen Freund Bouchard, nicht über Galileo«, fauchte Naudé ziemlich verwirrt, ohne deine Frage zu beantworten.
Wie hätte Naudé dir auch antworten können? Er und seine Freunde waren alle auf der Seite Galileos gewesen. Atheisten ändern fortwährend ihre Meinung, nur um immer und auf jeden Fall gegen den Glauben an die göttliche Vorsehung Partei ergreifen zu können.
Bouchard, berichtete der Bibliothekar weiter, hatte seiner kleinen philosophischen Lektion geduldig zugehört. Wie oft hatte er das schon in Paris in den Kreisen der Starken Geister gehört, die den Skeptizismus Pyrrhons bewunderten.
Schließlich antwortete er: Lieber Naudé, du hast die wahre Bedeutung meiner Frage nicht verstanden. Ich spreche nicht über die Wahrheit der Fakten, sondern über etwas, das vielleicht sehr viel weitergeht, ich spreche über die Zeit.
Und er erklärte Naudé, er habe einige Recherchen über Pyrrhon angestellt und herausgefunden, dass man auch über ihn fast nichts wusste, da er nicht einmal etwas Schriftliches hinterlassen hatte. Seine skeptischen Lehren waren durch seinen einzigen Schüler überliefert, einem gewissen Timon von Phleius. Doch auch von Timon war kein Werk erhalten, nur ein paar dürftige Fragmente, von denen andere Autoren berichten. Seltsam, denn den Historikern zufolge soll Timon Ströme von Tinte vergossen haben: Gedichte, Epen, Tragödien, Komödien, Prosa, Satiren … Allein seine Gedichte sollen über fünfundzwanzigtausend |558| Verse enthalten, das beteuert wenigstens Diogenes Laertios. Von dieser stattlichen Anzahl haben jedoch nur spärliche Bruchstücke aus zweiter Hand überlebt, die in Werken anderer Autoren zitiert werden. Die Lehren des Timon sollen, wiederum laut den historischen Quellen, durch Arkesilaos weitergegeben worden sein, der jedoch niemals etwas schrieb. Arkesilaos war Schüler des Mathematikers Autolykos von Pitane, von dem man praktisch nichts weiß. Es sind Traktate mit seinem Namen überliefert, doch nach Aussagen der Fachleute sind sie so elementar, dass wer weiß wie viele andere Autoren sie hätten verfassen können. Timon von Phleius hatte bei einem gewissen Stilpon studiert, ebenfalls einem Skeptiker. Aber auch von Stilpons Schriften ist nichts überliefert. Stilpon war Schüler des Euklid von Megara, von dem man fast nichts weiß und kein einziges überliefertes Werk kennt. Seine Philosophie soll Ähnlichkeiten mit den Lehren des Parmenides gehabt haben. Aber auch von Parmenides ist uns fast nichts erhalten, außer wenigen Fragmenten, und alles, was wir über ihn wissen, müssen wir anhand der Berichte anderer rekonstruieren. Man wird sagen: Das ist doch klar! Je weiter die Ereignisse zurückliegen, desto weniger Informationen und Handschriften können erhalten sein. Doch von Homer und Hesiod, die sehr viel älter sind, ist uns eine Menge überliefert.
Kurzum, lieber Gabriel, hatte Bouchard geendet, glaubst du nicht, dass man die Skepsis, die diese skeptischen Philosophen predigten, auch gegen sie selbst und gegen jene anwenden sollte, die uns ihre Echtheit garantieren wollen? Der Einzige von ihnen, dessen Schriften überliefert sind, ist Sextus Empiricus, der die Namen und das Denken dieser Phantasmen, vor allem jenes Pyrrhon, verbreitet hat. Doch seltsamerweise ist Sextus Empiricus, der zu der Zeit von Marc Aurel gelebt haben soll, also fünfhundert Jahre nach
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