Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Mysterium der Zeit

Titel: Das Mysterium der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi , Sorti
Vom Netzwerk:
diesen Philosophen, uns erst 1300 Jahre nach seinem Tod in schriftlicher Form überkommen. Ist das nicht ein bisschen zu lang? Wir lehnen den Glauben an die Heilige Schrift ab und schenken ihn bereitwillig anderen Schriften. Doch die Bibel wurde nicht so lange Zeit nach den von ihr beschriebenen Ereignissen verfasst wie die Handschriften, die uns die Werke antiker Autoren überliefern.
    Nimm Platon und Aristoteles: Wir alle wissen, dass die ältesten Handschriften ihrer Werke – vorausgesetzt, sie sind echt – aus dem 9. Jahrhundert stammen, also gut 1200 Jahre nach Platon und Aristoteles |559| selbst. Oder die antiken Historiker Herodot und Thukydides: 1300 Jahre. Cäsar und Tacitus: 1000 Jahre. Sueton 800 Jahre, Plinius 750. Die Liste könnte noch lang so weitergehen. Die ältesten Handschriften des Evangeliums dagegen sind schon 275 Jahre nach Jesu Tod entstanden.
    Siehst du? Dies sind allseits bekannte, unumstößliche Daten, hatte Bouchard gesagt. Doch niemandem geben sie zu denken. Warum sollte man auf Platon und Aristoteles vertrauen, auf die vier Evangelisten dagegen nicht? Warum sollten die Berichte von Lukas oder Matthäus weniger wert sein als jene von Herodot oder Thukydides? Wohlgemerkt: Ich fordere dich nicht auf, an den Erlöser zu glauben, ich bitte dich nur, etwas misstrauischer gegenüber den handschriftlichen Zeugnissen von Platon, Aristoteles und Thukydides zu sein, weil sie nach ihrem Abstand zu den vermeintlichen Ereignissen beurteilt werden sollten. Es geht nicht um den Inhalt der Handschriften, egal ob heidnisch oder christlich – es ist eine Frage der Methode. Nimm die Lehren Platons, die wir alle für älter halten als die Lehre Christi, die aber so große Ähnlichkeit mit dem Christentum haben, dass der christliche Glaube uns wie eine Mystifizierung der platonischen Philosophie erscheint – können wir wirklich sicher sein, dass sie nicht nach der Ankunft des Heilands entstanden sind? Wir unterziehen die Evangelien jeder Art von Kritik, warum verhalten wir uns gegenüber Platon und Aristoteles nicht ebenso skeptisch, sondern schlucken ihre Texte, als wäre es Orakel? Jesus hat ausdrücklich den Glauben verlangt, er hat nie behauptet, dass der Glaube an ihn von der menschlichen Vernunft ergründet werden könne, nein, er hat genau das Gegenteil gesagt.
    Platon und Aristoteles dagegen sind Philosophen, also verlangen sie, mit den Mitteln der Vernunft verstanden zu werden. Darum darf ich, wenn du gestattest, sagen, dass man blindlings und fraglos an Jesus glauben kann, während diese Blindheit bei Platon und Aristoteles ein Fehler wäre. Stattdessen geschieht genau das Gegenteil: wir unterziehen die Bibel jeder Art Kritik und rationaler Überprüfung, während wir vor zwei Philosophen die Vernunft zum Schweigen bringen. Jede dieser Lehren sollte nach ihrem eigenen grundsätzlichen Kriterium beurteilt werden – findest du nicht? Der Religion begegnet man mit dem Glauben, der Philosophie mit der Vernunft. Es ist wirklich absurd, dass wir genau das Gegenteil tun: Wir möchten die Religion |560| am Maßstab der Vernunft messen und schenken der Philosophie Glauben! Wenn wir an den handschriftlichen Zeugnissen der Evangelien zweifeln, die nur ein paar Jahrhunderte nach den Ereignissen entstanden sind, von denen sie berichten, warum glauben wir dann bedingungslos an die Handschriften von Platon und Aristoteles, die 1200 Jahre nach den beiden Philosophen, ihren vermeintlichen Verfassern, auftauchten? Ich hatte dich gewarnt, mein Freund, dass es nicht so sehr um die Fakten geht, die immer schwer zu überprüfen sind, sondern, recht betrachtet, um die Zeit.

    An dieser Stelle seiner Erzählung hätte ich erwartet, dass Naudé innehielte. Bouchards Worte, wie Naudé sie uns bis jetzt referiert hatte, waren eine unerwartete Anklage gegen die Starken Geister und nicht nur das: Sie machten auch aus Giganten der Antike –
in primis
Aristoteles, der das moderne Denken stark geprägt hatte – wenig mehr als Schatten, Nebel, Märchen.
    Naudé berichtete auf eine für ihn sehr ungewöhnliche Weise von den unbequemen Gedankengängen seines ermordeten Freundes. Er redete wie ein Wasserfall, doch ohne die gewohnte Doppelzüngigkeit, ohne Auslassungen oder Parteilichkeit, sodass ich nach diesem langen Gang durch die schwarzen Wasser der Wahrheit eine Pause erwartete, in der er Atem und Mut schöpfen konnte.
    Doch sie kam nicht, ja, je länger Mazarins Bibliothekar sprach, desto mehr Kraft zum Sprechen schien

Weitere Kostenlose Bücher