Das Mysterium der Zeit
in der ich, statt einzuschlafen, eher vor Müdigkeit ohnmächtig zusammengebrochen war. Ihr anderen schlieft fest.
Ich ging nach draußen. Die Sonne war eben über dem Toskanischen Meer aufgegangen und sandte ihre goldenen Strahlen nun in alle Richtungen. Der Wind war kräftig, brachte aber keine Wolken: ein schöner Tag kündigte sich an. Von diesem gesegneten Licht geküsst, erschienen das Dorf und der Hafen von Gorgona etwas weniger gespenstisch. Ich ging durch die Straßen zur Ortsmitte. Die Luft war kristallklar und trug jene besondere Duftnote des frühen Morgens, die wer weiß welche Herrlichkeiten verspricht und ein ganzes Regiment depressiver Greise in gute Laune versetzen kann.
Man konnte glauben, im nächsten Moment eine Wäscherin mit ihrem Korb frisch gebleichter Wäsche oder ein paar Fischer, die auf dem Boden sitzend ihre Netze flickten, oder ein Grüppchen hinter einem Ball aus Lumpen herjagender Kinder zu erblicken.
Stattdessen spazierte ich in völliger Einsamkeit, doch plötzlich meinte ich die Gegenwart eines anderen Wesens zu spüren. Ich hörte das Knirschen von Steinen, ein Rascheln, als schliche jemand dicht an einer Mauer entlang, sodass seine Kleider die Steine streiften.
»Wer ist da?«, rief ich.
Nichts, vielleicht hatte der Wind mich getäuscht.
Ich schlug den Rückweg ein und hatte mein Ziel fast erreicht, als ich sicher war, diesmal richtig gehört zu haben: es war das unverwechselbare Geräusch von Schuhabsätzen auf dem Straßenpflaster. Zwei oder drei Schritte nur.
»Wer auch immer du bist, komm heraus!«, befahl ich.
|638| Mit gespitzten Ohren wartete ich eine Weile.
Er musste dort sein, direkt hinter diesem Mäuerchen an der Straßenecke. Doch bevor ich mir den nächsten Zug überlegen konnte, meinte ich Schritte zu hören, die sich entfernten.
Ich machte einen Satz nach vorn, spähte um die Ecke: niemand. Ich ging auf dem Sträßchen weiter, bis ich ein dumpfes Geräusch hinter mir hörte. Es kam genau von der Stelle hinter der Straßenecke, an der ich eben stehengeblieben war. Ich lief zurück, doch wieder nichts. Am Boden ein großer Stein, den ich zuvor nicht bemerkt hatte. Dummkopf, sagte ich mir, sie spielen mit dir. Der Stein, wer weiß aus welcher Richtung geworfen, sollte mich in die Irre führen. Oder war das nur Einbildung?
Genau in diesem Augenblick riss eine Windbö zwei lose Ziegel vom Dach eines Häuschens in der Nähe. Also hatte ich mir vielleicht doch alles nur eingebildet.
Es war noch früh, als ich zu euch zurückkehrte. Ich legte mich in mein Eckchen und schloss die Augen.
Als ich erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ich hatte Caspar Schoppe vor mir. Der alte Deutsche saß am Kamin, den er selbst wieder in Gang gebracht hatte, während wir noch schliefen. Er saß auf einem alten Schemel, seine Augen waren gerötet, seine Stimme rau. Er hatte Fieber, durchaus verständlich nach den unmenschlichen Anstrengungen, denen er, ein alter Mann, während der vergangenen Tage ausgesetzt gewesen war.
Ich weckte dich, und wir halfen Schoppe, sich wieder hinzulegen und gut zuzudecken. An diesem Tag sollte er lieber nicht mehr aufstehen.
Kurz darauf erwachte Gabriel Naudé. Wir fragten ihn besorgt nach seinem Wohlergehen und ob wir ihm behilflich sein könnten. Er schien fast verwundert über unsere Fragen und fragte zurück, ob wir denn eine ruhige Nacht verbracht hätten und was wir während seines langen Schlafes getan hätten. Als wir zögerten, wiederholte er die Frage, sichtlich erstaunt über unsere Unschlüssigkeit.
»Erinnert Ihr Euch nicht, Monsire Naudé?«, fragtest du, »ich hatte Euch begleitet, als Ihr frische Luft schnappen wolltet.«
»Frische Luft schnappen, ich und Ihr?«, erwiderte er mit wachsender Befremdung. »Ich erinnere mich nur, dass ich allein nach draußen ging und mit diesem Fässchen ausgezeichneten Likörs zurückkehrte.«
|639| Dann errötete er aus Angst, senil zu erscheinen. Du und ich wechselten einen raschen Blick: vielleicht hatten der Rausch und die emotionalen Erschütterungen Naudé alles vergessen lassen. Das Gedächtnis des Bibliothekars hatte beschlossen zu versagen und seine Selbstliebe unangetastet zu lassen. Die Erinnerung an das Geständnis war ausgelöscht, und die moralische Jungfräulichkeit, wenn auch nicht wiederhergestellt, so doch zumindest geflickt. Dann betrachtete er seine Hände voller Kratzer und blauer Flecken. Auch die Beine waren aufgeschürft, seine Knie schmerzten. Die gestern auf
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