Das Nebelhaus
entscheidende Mut gefehlt. Aber ich hatte mir trotzig gesagt, dass mein Bruder schließlich nicht ein einziges Mal zuhörte, wenn ich Flöte spielte. So war er allein gegangen.
Die Vorhaltung machte ich mir später für kurze Zeit selbst, aber ich glaube – wenngleich ich keinen eindeutigen Beleg dafür habe –, dass zumindest meiner Mutter gelegentlich eine Schuldzuweisung auf der Zunge lag. Ausgesprochen hat sie den Vorwurf nie, doch er glitzerte überall: in ihrer Ungeduld gegen mich, in ihrer Unzufriedenheit mit der Auswahl meiner Freunde, in ihrem Unverständnis für meine frühe Schwangerschaft und meine Berufswahl.
Noch heute meine ich, wenn sie mir am Telefon zum Geburtstag gratuliert, einen bitteren Unterton zu hören, der mitten ins Herz sticht und verdammt wehtut. Manchmal wünsche ich mir, dass sie es endlich ausspricht, damit ich ihr eine runterhauen kann. Danach würde ich sie umarmen und küssen.
Yim wandte sein Gesicht den tausend Bäumen zu, an denen wir vorüberfuhren. Vielleicht fürchtete er, ich könnte ihn fragen, ob er sich manchmal selbst tadelte: Wäre ich früher am Nebelhaus gewesen … Vielleicht gab es ja noch andere Vorwürfe im Konjunktiv, von denen ich nichts ahnte. Noch immer wusste ich nicht, wieso Frau Nan zu nachtschlafender Zeit und während eines Sturms bei den Nachbarn aufgetaucht war.
Ich hatte mir gerade vorgenommen, unser Gespräch in diese Richtung zu lenken, als er fragte: »Wie sind sie eigentlich so, die Mörder, die du triffst?«
»Die meisten Mörder sind ganz anders, als man denkt«, antwortete ich und redete mich im Nu in Rage. Meine Antwort fiel recht weitschweifig aus, aber wir hatten ja Zeit, und Yim hörte mir aufmerksam zu.
Mörder entsprechen in der Tat so gut wie nie der einst weit verbreiteten Vorstellung vom Monster, das es in Wahrheit niemals gab. Die Mär vom Mörder-Monster, übrigens eine Erfindung von Medien und Literatur, hat Risse bekommen. All die Mörder und Mörderinnen, die in Handschellen und mit einem schwarzen Balken vorm Gesicht die Abendnachrichten betreten, sind auf erschreckende Weise normal. Sie sind Nachbarn, mit denen man sich über die Hecke hinweg unterhalten hat, Arbeitskollegen, die das Betriebsfest mit organisiert haben, oder der Cousin, mit dem man als Kind im Garten Federball gespielt hat und der heute noch zu Weihnachten und Geburtstagen eine Karte schickt. Wir alle könnten Mörder sein.
Eigentlich hat ihr Anderssein aber mit dem tieferen Grund für ihre Tat zu tun, ihrem wirklichen Mordmotiv. Lässt man gewöhnliche Erbschaftsmörder, perverse Sexualstraftäter und Mörder aus Liebe mal beiseite, bleiben Männer übrig, die scheinbar aus dem Nichts heraus ihre Frauen und vielleicht sogar ihre Kinder erschießen, Frauen, die ihre Babys lebendig vergraben, Brüder, die im Auftrag des Vaters die Schwester niederstechen, weil sie es wagt, ihr eigenes Leben zu leben, Schüler, die plötzlich wild um sich schießen, oder Jugendliche, die ihre ganze Familie umbringen.
Wörter, die in diesem Zusammenhang immer wieder fallen, sind Zorn, Wut, Leere, Hoffnungslosigkeit, Verrücktheit, Eifersucht und Rache – erfüllt von diesen Gefühlen stellen wir uns die Mörder vor. Ein Wort fällt leider äußerst selten, dabei ist es für mich in diesem Zusammenhang das Schlüsselwort: Angst.
Alle diese Mörder haben Angst, entsetzliche Angst. Allerdings sieht man sie nicht, denn sie ist verborgen unter Schichten des Zorns, der Verrücktheit, der Leere, und entfaltet von dort aus ihre zerstörerische Kraft. Neben der Liebe und dem Hass ist sie die größte Triebkraft des Menschen, wenn auch die unauffälligste, denn niemand gibt gerne zu, Angst zu haben. Eher hasst man, Hass ist gesellschaftskonform, das Feindbild allgemein anerkannt. Auch vor sich selbst versteckt man die Angst, maskiert und verkleidet sie, tauft sie auf andere Namen.
Viele der Männer, die ihre Frauen umbringen, haben in Wahrheit schreckliche Angst vor ihnen und ihrer Macht, sie zu verlassen oder ihnen über den Kopf zu wachsen. Gerade die schwachen Männer glauben, ihre Männlichkeit durch Gewalt unter Beweis stellen zu müssen. Dasselbe gilt für die sogenannten »Ehrenmörder«. Nicht die Ehre diktiert ihnen die Tat, wie sie der Welt weismachen wollen, sondern die Angst, ihr unterdrückerisches Modell des Patriarchats – hohl, wie es ist – könnte in sich zusammenfallen. Die Babys mordenden Frauen wiederum fürchten sich vor dem Leben schlechthin, und ein Baby,
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