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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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sehr, sehr lange. Oma ist fünfzehn Mal so alt wie du, und ihr geht’s immer noch gut.«
    Es wehte ihn unheimlich an, und ihn überkam das dringende Bedürfnis, seine Tochter fest an sich zu drücken. »Komm her, Schatz.«
    Er streichelte Clarissas Haare, und sie krallte sich mit beiden Händen an seinem Hemd fest. Ihr Atem ging leise und regelmäßig, der Bauch hob und senkte sich unter dem niedlichen Latzhosenanzug.
    »Hoppe, hoppe, Reiter«, bat sie, und er setzte sie sogleich auf seinen Schoß. Ihre Locken zappelten synchron mit dem Auf und Ab seiner Beine. Clarissa kicherte. »Weiter, Papa, weiter. Schneller, Papa, schneller.«
    »Du hast gut lachen. Ich brauche meine Beine noch. Wir fahren doch jetzt zum Leuchtturm.«
    »Kommt die Leonie auch mit?«
    »Wieso fragst du?«
    »Ich mag die Leonie.«
    »Ja, ich auch, Kleines.«
    Clarissa hatte ihm einen guten Übergang geliefert. Nachdem auch Leonie und Yasmin die Pistole nicht gefunden hatten, musste er sich unbedingt vergewissern, dass Clarissa nichts mit deren Verschwinden zu tun hatte.
    »Hör mal, Stupsi«, so nannte er sie manchmal wegen ihrer Stupsnase, das mochte sie, »Leonie hat etwas verloren, das hast du vorhin ja mitbekommen, und ich möchte von dir wissen, ob du es gefunden hast. Es ist nämlich sehr gefährlich, und man darf es nicht anfassen. Hast du es?«
    Clarissa schüttelte den Kopf.
    »Warst du in Leonies Zimmer?«
    »Nein.«
    »Sagst du mir die Wahrheit, Stupsi?«
    Clarissa überlegte. »Wenn ich dir die Wahrheit sage, kriege ich dann ein Bananenbrot?«
    »Einverstanden.«
    »Mit Schoko?«
    »Mit Schoko. Aber dann musst du mir auch wirklich die Wahrheit sagen.«
    Sie nickte eifrig. »Erst das Brot.«
    Er machte das Brot mit allem Drum und Dran, so wie sie es am liebsten hatte.
    »Hier, bitte. Und jetzt sag mir, wo du das Ding aus Leonies Zimmer versteckt hast.«
    »Ich habe nichts aus Leonies Zimmer genommen.«
    »Aber du hast mir doch gerade angedeutet, dass …«
    »Ich habe gesagt, ich sage die Wahrheit. Das ist die Wahrheit.« Sie sah ihn an, als hätte sie das Geschäft ihres Lebens gemacht. Die Kleine hatte ihn ausgetrickst.
    Er kitzelte sie. »Du kleiner Schelm, du. Jetzt musst du mir aber wenigstens verraten, was das andere ist, von dem du vorhin gesprochen hast. Du sagtest, du hättest mich wegen Mama und wegen etwas anderem gefragt, ob wir sterben müssen.«
    Clarissa hatte ein viel zu großes Stück von dem Bananenbrot abgebissen, was eine Antwort unmöglich machte. Daher zog sie ihn an der Hand auf die Veranda und von dort zu einer Birke. Dort lag, mit verrenktem Kopf, eine blutige Möwe. Vermutlich war sie von einer der Katzen gerissen worden.
    »Jonathan ist gestorben«, sagte Clarissa. »Ich wollte wissen, ob ich ihn mal wiedersehe?«
    Er seufzte. »Oh Kleines, das tut mir leid. Wir beerdigen die Möwe nachher. Aber das – das war nicht Jonathan. Er ist viel jünger, viel kleiner.«
    »So wie ich?«
    »So wie du.«
    Philipp lächelte erleichtert. Im Grunde hatte sich die beunruhigende Lage nicht verändert, trotzdem schien ihm eine mögliche Bedrohung ferner gerückt. Clarissa hatte ihm noch nie frech ins Gesicht gelogen. Er war überzeugt, dass sie spätestens bei seiner Befragung die Wahrheit zugegeben hätte, wenn sie tatsächlich etwas gestohlen hätte.
    »Wasch dir die Hände, Schatz. Es geht gleich los.«

9
    Wir fuhren mit Tante Agathe. Zwischen Yim und mir hatte es eine kurze Diskussion gegeben, ob wir mit seinem, meinem oder zwei Autos fahren sollten. Sobald er merkte, dass ich meinen eigenen Wagen vorzog, schwenkte er auf meine Linie. Getrennt zu fahren fand Yim lächerlich, und ich stimmte ihm zu. Aber ich wollte unabhängig sein, oder vielmehr einen Rest Unabhängigkeit demonstrieren. Schließlich unternahm ich die Reise auf Yims Initiative hin, man konnte sogar sagen auf Yims Einladung. Ich würde in seinem Elternhaus wohnen, in seinem Jugendzimmer schlafen und – dies vor allem – mich in seinem Leben bewegen, besonders in jenem Teil von vor zwei Jahren. Da war es wichtig, eine gewisse Distanz zu halten, und aus irgendeinem Grund fand ich die Distanz besser gewahrt, wenn wir mit meinem statt mit seinem Auto fuhren.
    Zu Beginn der Fahrt machten wir Konversation und blätterten den ganzen Katalog unverfänglicher Themen innerhalb einer halben Stunde durch – jener ersten halben Stunde, die wir benötigten, um die Berliner Stadtgrenze zu passieren. Der Verkehr ließ keinen Tiefsinn zu. Ich hätte Yim gerne

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