Das Nebelhaus
Film Das weiße Band ein. Er ist im Jahr 1913 angesiedelt, in einem ostdeutschen Dorf mit ungepflasterten Wegen, schlichten Häusern, diffusem Licht und einer Stille, die im Wechsel beruhigend und beklemmend ist. Darin geht es um einen Mord.
Der gleichmäßige Wolkenteppich, ein graugelbes Gespinst, drückte auf meine Stimmung. Die Luft stand, was für eine Insel sehr ungewöhnlich ist, und ich hörte rein gar nichts, außer Yims und meinen Schritten. Ein gewundener Trampelpfad durch versengtes Gras führte an einigen Neuendorfer Häusern vorbei. Staub wirbelte auf und legte sich auf meine Sandalen, wie damals auf meine Kinderschuhe, wenn ich mit Benny den Bolzplatz verließ und durch Wald und Wiese nach Hause spazierte. Ich senkte den Kopf. Auch Yim schwieg. Es war für mich wie der Gang auf einen Friedhof.
Und dann war es plötzlich da, das Nebelhaus. Schon die Architektur war dazu bestimmt, eine Attraktion zu sein, so als hätte der Planer und Erbauer sich ein Monument schaffen wollen. Philipp Lothringer – ein kleiner Cheops. Tatsächlich gab es vereinzelt pyramidale Formen in diesem verwinkelten Gewusel aus gläsernen Mauern. Ich hatte Fotos von dem Haus gesehen, aber erst als ich davorstand, fügten sich all diese Vorsprünge, schiefen Wände, Glas- und Steinstrukturen zusammen: Das Nebelhaus war als riesiger ungeschliffener Kristall konzipiert, und ich war mir sicher, dass der Kristall, wenn die Sonne schien, strahlte und reflektierte, was das Zeug hielt. Andererseits war er völlig fehl am Platz auf einer Insel, die von der Natur Bescheidenheit auferlegt bekommen hatte und deren Bewohner entsprechend lebten. Aber auch das ergab letztendlich einen Sinn – die Pyramiden wurden schließlich ebenfalls aus einer Wüstenei gestampft.
»Willst du es noch heute besichtigen?«, fragte Yim.
»Besichtigen?«
»Entschuldige, das ist wohl nicht das richtige Wort.«
»Mit dem Wort ist alles in Ordnung. Ich verstehe nur nicht … Ich kann da hinein?«
»Oh, das wusstest du nicht? Mein Vater hat die Zweitschlüssel. Er ist sozusagen der Verwalter, nur für den Fall, dass … Ach, ich weiß auch nicht für welchen Fall. Er hat nichts verändert, zumindest hat er mir das so gesagt. Das Nebelhaus ist noch genau so, wie die Polizei es nach Abschluss ihrer Untersuchungen hinterlassen hat, und das war vor fast zwei Jahren, ich glaube am dreißigsten September. Außer meinem Vater hat es seither keiner mehr betreten.«
»Mein Gott«, sagte ich leise. Ich war schockiert, allein deswegen, weil ich nicht damit gerechnet hatte, eine Tatortbegehung machen zu können. Und nun, da Yim sie mir auf dem Silbertablett servierte, schreckte ich davor zurück. Es wäre meine erste Begehung dieser Art.
Meistens sind nach einem Verbrechen die Überlebenden, die Erben oder die neuen Besitzer dagegen, die Medien an den Ort des Geschehens zu lassen, und viele Reporter sind auch gar nicht scharf darauf. Die Fotos entfalten oft nicht die volle Wirkung, auch nicht in Hochglanzmagazinen. Außerdem liegt der Fokus der Berichterstattung zumeist weder auf dem Tatort noch auf den Opfern, sondern auf dem Mörder, was ich zwar stets bekämpft habe, allerdings mit geringem Erfolg. Wenn der Tatort nicht gerade wie aus einem Agatha-Christie-Krimi entschlüpft ist, stößt er bei den Zeitschriftenverlagen eher auf geringes Interesse. Im Fall des Nebelhauses hätte ich gewisse Chancen.
Nach meiner ersten, eher ablehnenden Reaktion wusste ich binnen Sekunden mit absoluter Sicherheit, dass ich das Angebot annehmen würde. Mein Artikel sollte drei Schwerpunkte bekommen: das Interview im Komazimmer, das Geschehen der Mordnacht sowie den Tatort zwei Jahre nach dem Amoklauf.
Yims Elternhaus wirkte wie der Kiesel neben dem Berg, wenn man es mit dem Nebelhaus verglich. Ein Fenster hier, ein Fenster dort, eine schmutzige Hauswand, die einst weiß gewesen war, rostige Dachrinnen und ein Paradebeispiel für eine hässliche Haustür in Aluminiumoptik. Umrahmt war das alles jedoch von einer Blumenpracht, die ihresgleichen suchte und meine kitschige Vorstellung eines Hiddenseer Bauerngartens in den Schatten stellte. Claude Monet hätte augenblicklich den Pinsel hervorgeholt. Allein die Gladiolen … Sie waren in riesigen gebündelten Stauden bis auf Augenhöhe gewachsen, nur überflügelt von den Malvenstöcken. Rotglühende Kapuzinerkresse rankte sich um einen Jägerzaun, büschelweise wuchsen Hortensien in Königsblau entlang des Weges, dazwischen englische Rosen,
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