Das Nebelhaus
gefragt, wie er sich dabei fühlte, dass ich in seiner Geschichte spazieren ging, oder wie wohl sein Vater auf mich reagierte. Es ist jedoch ein albernes Unterfangen, solche Dinge zu besprechen, während andere Autos ohne Blinker und Vorwarnung die Spur wechseln, Krankenwagen einen mit riesigem Tatütata zum Ausweichen zwingen und Fahrradfahrer die Chaostheorie erproben.
Obwohl ich alles andere als aggressiv fuhr, schien Yim meine Fahrweise nicht zu mögen. Er war jedenfalls auffällig still, und er stützte sich zu beiden Seiten des Sitzpolsters mit den Händen ab. Dass er – wie viele meiner Beifahrer – so reagierte, lag an Tante Agathe. Damit sie zum Stillstand kam, musste ich die Bremse ordentlich durchtreten. Selbst um sie zu kleinen Kurven zu bewegen, war es erforderlich, das Lenkrad einmal um die eigene Achse zu drehen, als steuerte ich einen Ozeandampfer. Nicht zuletzt die Gangschaltung war von beachtlicher Renitenz, so als wollte sie mir zu verstehen geben, dass sie woanders hingehöre und nicht in dieses Auto. Mein Sohn fragte mich einmal, ob ich mit dem TÜV -Prüfer geschlafen hätte, um eine neue Plakette zu erhalten.
Sobald wir ins Brandenburgische kamen, wurde Yim wieder gesprächiger. Bei geöffneten Fenstern im Laubschatten von Linden und Eichen fuhr ich Landstraße, Alleen, schnurgerade Strecken, die zum Träumen einluden. Wir fingen an, uns zu duzen.
»Kannst du glauben«, sagte er, »dass es Leute gibt, die diese Schönheit abholzen wollen, nur weil sich ein paar Teens und Twens jedes Jahr um die Bäume wickeln, wenn sie nachts um drei besoffen aus der Disco kommen? Was können denn die Bäume dafür?«
Die von der Dummheit mancher Menschen bedrohten Alleen waren unser Einstieg in eine andere Phase der Fahrt. Darüber war ich froh. Ich konnte nur raten, warum dem so war, aber Yim weckte jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, meine Lust an existenziellen Themen. An Gesprächen über Leben und Tod ebenso wie an Schicksalen. Vermutlich lag es daran, dass er eines hatte, ebenso wie ich.
Um ein Schicksal zu haben, muss man wenigstens einmal im Leben eine Erfahrung oder Erkenntnis ungeheurer, erschütternder Art gehabt haben, ein Schlüsselerlebnis. Solchen vom Schicksal gebeutelten Leuten begegnete ich zumeist im Zuge meiner journalistischen Arbeit und lernte sie daher nur für ein einziges, meist kaum halbstündiges Gespräch kennen. Diese Leute elektrisierten mich, aber der Kontakt war kurz, daher blieb nur die Erinnerung an ein Bitzeln auf der Haut. Vor Yim hatte ich noch mit keinem von ihnen im Auto gesessen.
»Es ist eine menschliche Eigenschaft, die Schuld immer woanders zu suchen«, sagte ich. »Die jungen Männer sind mit anderthalb Promille im Blut und zwei Mädels auf dem Rücksitz unterwegs, und sowohl das Testosteron als auch die Geschwindigkeitsanzeige sind am Limit des Möglichen, bevor es kracht. Die Eltern wissen das alles, dennoch ist für sie letztendlich der Baum verantwortlich. Hätte der nicht dort gestanden, wäre ihr Sohn noch am Leben.«
Ich sprach zwar noch über die Alleen, war aber in Wahrheit längst über dieses Thema hinaus. Wie alle Hinterbliebenen von Menschen, die auf gewaltsame Art aus dem Leben katapultiert worden waren, kannte auch ich die Mechanismen des Vorwurfs und des Selbstvorwurfs. Wenn ich doch bloß … hätte ich nur … wäre ich …
Die drei Wörter haben schon zahllose Angehörige von Opfern und Tätern innerlich aufgefressen. Ihre Zersetzungskraft beruht darauf, dass sie den Menschen eine Illusion vorspiegeln; sie nehmen jene Gestalt an, welche die Menschen idealerweise in ihnen sehen wollen, und werden daher bereitwillig hereingelassen. Dabei sind sie in Wahrheit heimtückische Monster, die Seelen zerfressen.
Wieder dachte ich an die Zeit nach Bennys Tod. Hätte der Fußballtrainer damals kein Sondertraining angesetzt, wäre mein Bruder an jenem Tag nicht durch den Wald zum Bolzplatz gegangen. Wozu dieses Sondertraining? Musste das wirklich sein? Solche Sätze hörte ich meine Eltern einige Wochen nach dem Unglück sagen. Aber auch noch einige andere Gespenster gingen um: Hätte meine Mutter darauf bestanden, dass Benny an jenem Nachmittag Hausaufgaben macht, statt zu kicken … Hätte mein Vater im Ortsbeirat dafür gestimmt, dass endlich eine Verbindungsstraße zum Bolzplatz gebaut wird … Und was mich selbst betrifft: Hätte ich Benny an jenem Tag begleitet, wie er es sich gewünscht hatte, dann hätte dem Täter wahrscheinlich der
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