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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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also neues Leben, bedeutet noch mehr Furcht. Die Medeas unserer Tage versuchen ihre Zukunftsangst zu töten und zu vergraben, indem sie die armen Geschöpfe in Blumenerde oder Tiefkühltruhen versenken. Und was die Amokläufer angeht – das Wort Amok stammt aus dem Malaiischen und bedeutet so viel wie Panik, Angst. Die Angst wirkt im Amoklauf in ihrer reinsten, destillierten Form. Zum Tatzeitpunkt bestehen Amokläufer nur noch aus Angst, verpackt in Zorn. Nicht umsonst töten sie sich mit der letzten Kugel selbst, aus Angst vor den übrig gebliebenen Menschen dieser Welt, die sie nicht erschießen konnten.
    Während ich ohne Punkt und Komma redete, blickte Yim die ganze Zeit über schweigend aus dem Seitenfenster, als zähle er die Linden, die wir passierten. Aber ich spürte, dass er mir aufmerksam zuhörte, sah es an seinen Händen.
    Hände werden oft unterschätzt, dabei sind sie ein wichtiges Indiz für die Befindlichkeit eines Menschen, und Yims Hände reagierten sehr deutlich auf das, was ich sagte. Er verbarg sie erst zwischen den Knien, dann unter den Achselhöhlen und schließlich unter den Oberschenkeln. Das Thema nahm ihn mit. Trotzdem hatte er es angeschnitten.
    »Bist du schon vielen Mördern begegnet?«, fragte er, nachdem ich geendet hatte.
    »Sehr vielen, an die hundert. Und du, bist du schon einmal einem Mörder begegnet? Außer Leonie Korn, versteht sich.«
    »Nein«, antwortete er nachdenklich und mit einer Verzögerung, als wäre er in aller Schnelle die Menschen, die er kannte, im Geiste durchgegangen. Vielleicht hörte sein Nein sich deshalb in meinen Ohren nicht völlig überzeugend an.
    Rasch kam er wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. »Alle diese Mörder, denen du begegnet bist, töteten also aus Angst?«, fragte er.
    »Die meisten. Das ist jedenfalls meine Theorie. So, wie wir über Jahrhunderte unseren Blick auf Aussehen und Charakter des typischen Mörders eingeengt haben, so haben wir uns lange Zeit auch über die Mordmotive getäuscht. Bei Mord, so hieß es immer, muss es ja um etwas Bedeutendes gehen, um viel Geld oder die große Liebe. Aber dann tötet ein braver, unauffälliger Sechzehnjähriger seine konservativen Eltern, damit sie nicht herausfinden, dass er schwul ist. Man muss nicht gewaltbereit, charakterlich verkommen, geldgierig, eifersüchtig oder verrückt sein, um zum Mörder zu werden. Es genügt, Angst zu haben.«
    Yim dachte über meine Worte nach. »Was ist mit Leonie Korn? Hat auch sie aus Angst getötet?«
    Ich wählte meine Worte vorsichtig. Leonie Korn war ein sensibles Thema. »Bisher kann ich nur dazu sagen, dass sie sich in ihrer Kindheit oft gefürchtet hat. Das ist noch nicht viel, aber selbst das komplizierteste Puzzle beginnt mit dem ersten Teil. Solange ich in Bezug auf die Ereignisse des Wochenendes vor zwei Jahren im Dunklen tappe, wäre jede Einschätzung meinerseits unprofessionell. Ich muss mir eher folgende Fragen stellen: Warum hat Leonie nicht in ihrem Kindergarten um sich geschossen? Warum nicht in der Fußgängerzone ihres Heimatortes? Warum gerade an jenem Wochenende auf Hiddensee, als sie Leute um sich hatte, die sie von früher kannte? Bevor ich darauf keine Antworten habe … Daher habe ich dich bei unserer ersten Begegnung nach den Gästen des Wochenendes gefragt.«
    Damit waren wir wieder dort angelangt, wo Yim das Interview rund eine Woche zuvor abgebrochen hatte. Ich insistierte nicht. Noch einmal wollte ich die neuralgische Linie nicht überschreiten.
    Yim vertiefte sich in die Straßenkarte, und eine Weile sprachen wir nicht miteinander. Ich schaltete das Radio an und suchte einen Sender, der der brandenburgischen, dann der mecklenburgischen Landschaft gerecht wurde. Schließlich blieb ich beim NDR und Chopin hängen. Balladen untermalten von da an das Spiel von Licht und Schatten auf den endlosen Alleen, die vom Asphalt aufsteigende Glut, der man stets entgegenfuhr, das Vorübergleiten der Seen, schillernd wie geschmolzenes Silber, das Gleiten der Reiher über Nassfelder. Yim und ich betrachteten die Bilder, die uns die Natur lieferte, mit der gleichen Bewunderung, wir schwiegen über dasselbe Thema. Das einzige Mal, als wir uns ansahen, suchten unsere Blicke im nächsten Moment fast verschämt Zuflucht in einer anderen Himmelsrichtung. Chopin ersetzte das, was Yim noch nicht aussprechen konnte, was ich noch nicht aussprechen konnte. Und das war viel.
    Auf Hiddensee anzukommen, war für mich ein bisschen, als träte ich in den

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