Das Nebelhaus
klar, dass Vev Mutter war. Natürlich hatte er das auch vorher schon gewusst, aber erst jetzt begriff er die Tragweite dieser Tatsache.
Vev hatte eine Tochter! Und er? Er hatte Tage, an denen er sich selbst noch immer ein bisschen wie ein Kind fühlte. Frauen in Vevs Alter waren anders als die Frauen seines Alters, sie waren selbstbewusst, ohne arrogant zu sein. Sie wussten vielleicht nicht immer, was sie wollten, aber fast immer, was sie nicht wollten, und das war schon eine ganze Menge. Er und Vev existierten in verschiedenen Welten, nicht bloß getrennt durch Jahre, sondern durch mehrere Schichten an Erfahrungen. So spürte er gleichzeitig eine große Anziehung und großen Respekt.
Yim kam zurück. »Beim Ordnungsamt weiß man nichts von einer Waffe. Sie haben sich den Vorfall aber notiert.«
Auch Philipp hatte nichts erreicht, außer dass die Polizei den Vorfall registriert hatte und weiterleiten wollte.
Sie beschlossen, das Haus zu durchsuchen. Philipp und Vev übernahmen das Erdgeschoss, während Timo und Yim Clarissas Zimmer auf den Kopf stellten.
Das Kinderzimmer vermittelte den Eindruck, über den Wolken zu schweben. Es war zartblau angestrichen und mit einem kuscheligen blauen Teppichboden ausgelegt. An der Decke glänzte eine lachende Sonne. Die Birkenholzmöbel waren weiß gebeizt und wimmelten nur so von Stofftieren der fünf Kontinente. Ein solches Zimmer bot zahlreiche Versteckmöglichkeiten, daher nahmen sie jedes Tier in die Hand, sahen in jede Schublade, in jeden Legokasten.
Als Timo und Yim – erfolglos geblieben – die Treppe nach unten gingen, hörten sie Philipp und Vev streiten. Keiner von beiden wurde laut, aber sie behandelten sich mit der eisigen Höflichkeit zweier spinnefeinder Politiker.
»Verstehst du denn nicht? Leonie ist mein Gast, und du hast sie geschlagen. Das bringt mich in eine unangenehme Lage.«
»Sollte jemand durch die Waffe getötet werden, befindet derjenige sich auch in einer unangenehmen Lage. Hast du dir darüber einmal Gedanken gemacht?«
»Ich werde Leonie unmissverständlich sagen, was ich davon halte, darauf kannst du dich verlassen. Aber damit möchte ich es dann auch bewenden lassen.«
»Wer spricht mit Clarissa?«
»Das werde ich tun. Du bist viel zu wütend.«
»Wütend auf deinen Gast, Leonie the Kid, nicht auf Clarissa.«
»Trotzdem. Ich kümmere mich um alles.«
Es entstand eine Pause, die erst vom Geräusch aneinanderschlagender Eiswürfel im Glas beendet wurde.
Yim war unterdessen nach draußen gegangen, Timo stand noch immer auf der Treppe und meinte das Whiskyglas zu sehen. Er hatte vor Augen, wie sie es hielt, wie sie daran nippte, wie sie den Mund öffnete und sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn strich.
»Findest du«, fragte Philipp, »den Zeitpunkt für Whisky geeignet?«
Vev antwortete nach einem gedehnten Augenblick mit einer Gegenfrage. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Stell bitte das Mandolinengezupfe aus. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Vivaldi diese Musik für eine solche Gelegenheit geschrieben hat. Ich durchsuche jetzt noch einmal Clarissas Zimmer und lege mich dann eine Stunde hin.«
»Und unser Ausflug? Wir wollten doch mit den anderen zum Leuchtturm radeln.«
Philipp erhielt keine Antwort. Sekunden später kam Vev die Treppe herauf und warf Timo einen jener Blicke zu, die ihm unter die Haut gingen. Das Glas in der Hand, schritt sie wortlos an ihm vorbei, und er sah ihr lange nach.
»Papa, müssen wir alle sterben? Und wer ist Me… Medea?«
Philipp haute es fast vom Küchenhocker, auf den er sich gerade erst gesetzt hatte, um Clarissa zu befragen. Sterben, Medea. Wie um alles in der Welt kam sie auf Medea? Hätte sie ihn nach Methylalkohol oder dem deutschen Steuerrecht befragt, hätte er nicht verblüffter sein können.
»Willst du das wegen dem wissen, worüber wir uns vorhin so aufgeregt haben?«
»Ja, wegen Mama und noch wegen etwas anderem. Mama hat was vom Sterben gesagt.«
»Ja, aber von Medea hat sie nichts gesagt.«
»Doch! Als ihr alle weg wart, hat sie leise geschimpft. Ich habe es genau gehört. Sie hat gesagt, dass die Leonie da, wo sie wohnt, auf Kinder aufpasst. Und dann … dann hat sie gesagt, das … das ist so, als würde man Me… Med…«
»Medea.«
»Medea zur Kindergärtnerin machen.«
»Mama hat sich ein bisschen aufgeregt, das hat sie nicht so gemeint.«
»Müssen wir sterben?«
»Nein, Schatz.«
»Aber irgendwann, ja?«
»Na ja, das dauert noch
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