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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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die Blütendolden so schwer, dass sie sich vor dem Betrachter verneigten. Gelber Mauerpfeffer überwucherte eine künstlich angelegte Trockenmauer. Der Flieder war natürlich längst verblüht, aber der Schneeball daneben erlebte gerade seine beste Zeit. Ein Gartenteich, so groß und rund wie ein Trampolin und üppig von Sumpflilien umwachsen, war das Revier eines einsamen Koi-Karpfens und einer Libellenfamilie.
    Besonders stach mir ein alter Schuppen ins Auge. Er stand geschätzt zwanzig Meter vom Haus entfernt, und obwohl recht groß, war er fast vollständig von violetter und weißer Clematis, Efeu, wildem Wein sowie zahllosen alten Kletterrosen bedeckt, so als ob die Pflanzen das Innere vor der Welt abschirmen sollten – oder umgekehrt.
    »Schön, nicht?«, sagte Yim. Er stand mit dem Schlüssel in der Hand vor der hässlichen Haustür, steckte ihn jedoch wieder ein und zog es vor zu klingeln.
    »Unglaublich schön«, bestätigte ich. »Kaum zu fassen, dass ein Einzelner all das gestaltet hat.«
    »Ich habe dir ja gesagt, dass mein Vater Blumenliebhaber ist. Der Garten ist sein ganzes Glück.«
    Jeder hätte aufgrund dieser Blütenpracht erwartet, dass ihm ein frohlockender, offenherziger, zumindest ausgeglichener Mensch die Tür öffnet. Wer sich einen solchen Garten ausdachte, ihn hegte und pflegte, der musste einfach eine Liebe zum Leben in sich tragen und ausstrahlen. Weil ich Herrn Nan bereits telefonisch »begegnet« war, wusste ich es jedoch besser und hatte eine düstere Vorahnung.
    Sie sollte sich in jeder Hinsicht erfüllen.

10
    September 2010
    Frau Nan kochte bei sich zu Hause ein frühes Mittagessen: Salat, Garnelen, Mangos, Zitronengras, eine angebrochene Dose Kokosmilch, Sesamöl, Reis und manches mehr. Die meisten Zutaten hatte sie am Vorabend von den Lothringer-Nachtmanns mitgenommen. Die beiden würden nichts davon vermissen, sie hätten es ohnehin weggeworfen, und selbst wenn sie etwas merkten, wären sie zu höflich und zu gleichgültig, ihr deshalb Vorwürfe zu machen. Was bedeuteten ihnen schon ein bisschen Reis und Zitronengras? Wer in einem solch riesigen Haus lebte … Für Frau Nan hingegen war es existenziell, dass sie Geld einsparte, wo sie konnte.
    Als alles vor sich hin briet, ging sie ins Wohnzimmer, wo ihr Mann, wie so oft, im Halbdunkel saß, den Rollladen bis zur Hälfte heruntergelassen. Auf seinen Knien lag ein Buch, erhellt vom winzigen Kegel einer Tischlampe. Sie kannte das Buch, es war immer dasselbe: ein Fotoalbum voll mit verwelkten, brüchigen Bildern aus seiner Kindheit und Jugend. Er saß oft davor und fast immer so lange, dass man meinen konnte, seine Kindheit habe fünfzig Jahre gedauert, und es gebe Tausende Bilder davon.
    »Ist Yim schon zurückgekommen?«, fragte sie auf Deutsch. Die Eheleute sprachen niemals Kambodschanisch miteinander, obwohl sie beide auf Kambodschanisch träumten. Im Wachzustand mieden sie ihre Heimatsprache wie eine Drachenhöhle, die sie jedoch fast jede Nacht betreten mussten, ein jeder für sich.
    Ganz kurz tauchte Herrn Nans Gesicht in den grellen Schein der Lampe, und ihr fielen wieder einmal die Farbe und Konsistenz seiner Haut auf, dieses dicken Leders, das aussah, als würde es keine Kälte durchlassen, keine Nässe, gar nichts. Ein siebenundsechzig Jahre alter Panzer. Die ganze Schönheit Herrn Nans hatte sich ebenso wie seine unglaubliche Vitalität in der Jugend in einem langsamen Prozess während der letzten vierzig Jahre in seine Augen zurückgezogen, die noch immer erstaunlich hell waren. Jedes Mal, wenn sie in diese Augen blickte, sah Frau Nan den Anfang – auch heute noch, am Ende.
    »Nein, er ist noch nicht da«, antwortete Herr Nan.
    Sie zog sich wieder in die Küche zurück und betrachtete ihre Handgelenke, hellgrün wie unreife Bananen, weil Viseth, ihr Mann, ein einziges Mal kurz und fest zugedrückt hatte. Wie dünn und verletzlich ihre Haut im Alter geworden war. Eine solche Haut vergaß keine Verletzung, sie nahm alles entgegen und reagierte, als stünde sie in einem Dialog mit der Welt, so wie ein Verstand.
    »Ist er immer noch nicht zurückgekommen?«, fragte sie einige Minuten später.
    »Nein.«
    Schweigend aßen sie zu Mittag. In dieser Stille, die ein Beobachter leicht als große Eintracht oder als große Langeweile hätte fehlinterpretieren können, ging es in den Gedanken laut und lärmend, ja geradewegs dramatisch zu.
    Frau Nan war in die letzte Phase ihres Lebens eingetreten, in der alle großen Lebensfehler

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